I.XIV

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Vom Schmerz zum Chaos

"Mein Leben ist ein großer 'Warum habe ich das gemacht'-Moment."

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Mit Mühe schleppte sich Saejin in ihr Bett. Ihre Augen brannten und waren angeschwollen. Ihr Mund war trocken. Ihr Herz schmerzte immer noch. Trotz der Erkenntnis, dass sie sich an etwas erinnert hatte, das durchaus hilfreich war, war ihr schlecht. Sie hatte kaum etwas gegessen und die Panik, welche sie noch vor wenigen Minuten komplett gefüllt hatte, hatte sie noch hungriger gemacht. Sie wollte das Zimmer jedoch nicht verlassen, um etwas zu essen zu holen. Zum Einen war sie viel zu schwach, zum Anderen wusste sie nicht, wo die Küche war und sie wollte in der Dunkelheit nicht danach suchen. Und einen der Anderen wollte sie auch nicht wecken. Sie musste demnach also hungern. Wäre ja nicht das erste Mal.
Es hatte angefangen zu regnen, als sich das Mädchen in das Bett fallen ließ. Große Tropfen prallten gegen die hohen Fenster. Saejin liebte die Geräusche, die der Regen immer mit sich brachte. Vor allem im Sommer hatte sie sich immer über die Schauer gefreut. Sie war im Kindesalter, als sie noch mit ihren Eltern nicht in Seoul auf dem Land gelebt hatte, immer raus in den Wasserguss gelaufen. War herum gehüpft, hatte getanzt und den Regen genossen. Der Poolgeruch, das Gefühl auf ihrer Haut und die Geräusche, wenn die Tropfen auf die entstandenen Pfützen trafen.

Saejin hatte nur gute Erinnerungen an die Tage ihrer Kindheit. Sie hatte immer gut gelebt und war behütet aufgewachsen. Sie liebte ihre Eltern. Sie liebte das Haus, in dem sie groß geworden war. Sie liebte die Gegend, die ihre Kindheitserinnerungen geprägt hatte.

Die kleine Stadt lag im Süden des Landes. Auf einer Insel. Verbunden mit dem Festland durch zwei große Brücken. Saejin konnte sich daran erinnern wie sie mit ihren Eltern und San über die  노량대교 Noryang-Daegyo gefahren ist und fasziniert von dem Wasser. Sie schaute mit großen Augen auf die Massen unter sich. Sie versuchte, sich in ihrem kleinen Kopf vorzustellen, wie tief sie tauchen müsste, um den Boden zu erreichen. Ihre Fantasie war nicht stark genug, um sich den Grund unter der Ansammlung der Flüssigkeit vorzustellen. Vielmehr hatten sich in dem kleinen Kopf der damals 9-Jährigen Wesen gebildet, die später am Tag sie in ihren Alpträumen heimsuchten.
Saejin ließ ein Seufzen über ihre Lippen rollen. Die Alpträume hatte sie dazu gebracht, Angst vor Wasser zu haben. Die Wesen, Monster, wenn sie es sich eingestand, hatten ihr einen Schauer über die Leber laufen lassen. Seither hasste sie das Wasser. Sie verband in ihrem Verstand große Wassermengen mit jenen Monster aus ihrer Kindheit.

Ein weiteres Seufzen bildete sich in ihrem Hals. Sie vermisste das Haus in Namdae. Sie vermisste ihre Familie.

Zum zweiten Mal an diesem Abend formte sich ein Frosch in ihrer Kehle. Wieder einmal wurde ihr Blick schwammig. Ihre Augen brannten. Ihr Herz schmerzte. Sie vermisste ihr altes Leben. Sie vermisste ihren alten Probleme. Sie wollte zurück in die Zeit, in der ihre Probleme noch normal waren. In der sie noch First-World-Problems hatte. Sie hasste ihr neues, kompliziertes Leben. Wie konnte sie nur in dieser Situation landen? Sie wusste es nicht wirklich. Niemand wusste es.

In diesem Moment wollte sie sich einfach für immer in ihrem Zimmer einschließen. Sie wollte alleine sein und die Welt nie mehr sehen. Sie wollte ihre Decke über sich werfen und niemals wieder unter ihr hervorkommen.

Diesmal waren ihre Tränen still. Sie ließ keinen Mucks ihr entkommen. Und die Geräusche, die ihr dennoch entflohen, verschwanden tief in dem Kissen, welches sie eng in ihren Armen hielt. Wüsste sie jetzt, wo ihr Bruder sich in dem Apartment befand, würde sie zu ihm gehen. Vielleicht wäre er in der Lage, ihren Schmerz zu lindern. Aber sie wusste es nicht und die Schwäche saß tief in ihren Knochen. Wenn sie überhaupt in der Lage war aufzustehen, dann nur unter Schmerzen.

Jedoch wollte Saejin nicht aufstehen. Sie konnte nicht mehr. Sie war ausgelaugt. Sowohl körperlich als auch emotional.

Vor nur wenigen Monaten hatte sie ihr Leben aufgegeben und war vollkommen bereit zu sterben. Sie war bereit, alles hinter sich zu lassen. Liebe, Freundschaft, Familie und Glück. Nur um diese Schmerzen loszuwerden. Auch wenn ihr Leben wieder lebenswert war. Auch wenn sie ihre Familie wieder hatte. Auch wenn sie wieder leben konnte, so war ihr nicht danach. Ihr Leben schien ihr immer noch so trostlos, so grau. Und der Schmerz war immer noch da.

Saejin war bewusst, dass dieser Schmerz nicht so einfach verschwand, doch wünschte sie sich eine Sekunde ohne ihn in der hintersten Ecke ihrer Wahrnehmung.

Wann war endlich die Zeit gekommen, in der sie einfach nur glücklich war? Kein 'Wenn', kein 'Aber'. Keine Bedingungen und nichts nebenbei. Einfach nur glücklich. Wann durfte sie ohne ein Stechen im Hinterkopf und einer verschlüsselten Nachricht ihres Unterbewusstseins Lachen, Lächeln, Lieben? Wann war es an der Zeit, dass Saejin Freude, echte wahrhafte Freude, verspürte? Fragen, die niemand - nicht einmal die Sterne - beantworten konnten.

Aber wer war Saejin in dem riesigen Universum auf einem riesigen Planeten, um Ansprüche an das Schicksal zu stellen? Niemand. Die Antwort war niemand. Das erste Mal, dass sie sich eine ihrer Fragen beantworten konnte.

Saejin hing ihren Gedanken nach. Ging die letzten Tage ihres nicht mehr ganz so erbärmlichen Lebens durch. Suchte nach irgendwelchen Hinweisen des Lebens, die ihr vielleicht etwas über den Plan für die Zukunft verriet. Aber da war nichts, was ihr etwas verriet. Zumindest fiel ihr nichts auf. Nichts Wichtiges.
Die Gedanken an die letzten Tagen - vor allem an Wooyoung - trockneten ihre Tränen. Und nach wenigen Minuten lullen sie das Mädchen in einen vorerst traumlosen Schlaf. Später würde sie einen Alptraum durchleben, der in ein Happy End mündet. Nachdem sie den Horror überstand, würde San auf sie warten. Mit offenen Armen und genug Liebe für sie, um darin zu ertrinken. Wooyoung würde dazu kommen und die Beiden würden einander lieben. Saejin hatte bewusst nicht ihr rasendes Herz mitbekommen oder die roten Wangen, wann immer der Ältere bei ihr war, aber ihr Verstand hatte es schon lange erkannt.

Der Regen prasselte stärker an ihr Fenster. Als wollte er das Mädchen aufwecken. Aus ihrer Trance holen. Sie hatte eine rastlose Nacht gehabt.

Obwohl sie eingeschlafen war und trotz des bequemen Bettes, hatte sich der Schlaf nicht nach Schlaf angefühlt. Es war eine kurze Pause von der Welt um sie herum gewesen, aber diese Pause war vorbei. Sie war kaum erholsam gewesen. Um ehrlich zu sein, fühlte sich Saejin erschöpfter als in der Nacht, bevor sie eingeschlafen war.

Ihre Augen waren Zeugen von den Tränen, die sie verloren hatte. Sie waren angeschwollen und rot angelaufen. Ihre Wimpern klebten zusammen. Nur schwer lösten sie sich voneinander, als das Mädchen ihre Augen öffnete.

Die Sonne versuchte ihr Bestes, um durch die Wolkenwand zu kommen, aber ihr gelang es nicht. Saejin lächelte leicht, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nicht in dem Krankenhauszimmer befand, sondern in der Wohnung der Jungs. In ihrem eigenen Zimmer.

Freude kam in ihr hoch.

Doch dann erinnerte sie sich an die vergangene Nacht und das Gefühl verschwand wieder. Wie so oft entfloh ihr ein leises Seufzen, als sie sich aufsetze und versuchte, die Müdigkeit loszuwerden. Sie rieb sich ihre Augen, gähnte einmal und stand auf. Das erste Mal in der Woche hatte sie sich nicht noch einmal umgedreht und weitergeschlafen.

Quasi ein Wunder, dass sie es diesmal tat.

Ihre Schritte führten sie zu dem Kleiderschrank, aus dem sie irgendwelche Klamotten zerrte, ohne darauf zu achten, ob diese auch zusammenpassen. Danach griff sie nach der Haarbürste, welche sich auf der Kommode befand und kämmte ihre Haare durch. Aus dem Flur hörte sie Stimmen durcheinander reden. Auch wenn sie leise waren, hörte Saejin die Aufregung stark heraus.

Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie sich bereit fühlte und in das Chaos schritt, dass sich auf der anderen Seite der Tür befand.

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"Sei ängstlich und mache es trotzdem."

[𝐃𝐄, 𝐀𝐓𝐙] Das Gefängnis der FreiheitWhere stories live. Discover now