Kapitel 37- Schlaflos

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Meine Tochter lernte das Lesen und Schreiben schnell. Was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass Mirabell ihr regelmäßig „Nachhilfe" gab. Nicht, dass sie es nötig gehabt hätte, aber den Mädchen machte es nun einmal Spaß, zusammen zu lernen, und Esther wollte auch so gut „mit Buchstaben jonglieren" wie ihre große Freundin.

Es gelang ihr rasch. Und somit war auch ihr Interesse für Bücher geweckt. Wir selbst waren zu Hause nichts sonderlich gut ausgestattet, weshalb Esther oft die neu errichtete und sortierte Stadtbibliothek besuchte, von der sie sich Bücher auslieh. Manche gefielen ihr so gut, dass sie sie am liebsten für immer behalten wollte. Manchmal hatten wir ein Nachsehen und erlaubten es oder schenkten ihr es zum Geburtstag. Hei, da strahlten ihre Augen!

Trotz der eigentlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau war es leider so, dass die meisten Frauen nach wie vor nur als Hausfrau und Mutter dienten. Ich wollte das anders machen, ich arbeitete von zu Hause aus, strickte, häkelte und spann. Und neben Immanuels Gehalt als Schullehrer war das ein guter Nebenverdienst, der uns auch das eine oder andere mehr ermöglichte.

Eines Tages fiel mir auf, dass Esther sehr blass aussah, ständig müde war und Augenringe trug. Auch ihre schulischen Leistungen ließen nach, sie traf sich nur selten mit Mirabell und konnte sich, wenn sie dann doch mal zusammen übten, kaum konzentrieren. Ich war alarmiert und gemeinsam mit Immanuel und meiner Tochter ging ich zum Arzt. Mein Kopf hatte sich schon alle möglichen Diagnosen zurechtgelegt, auf die ich vorbereitet sein müsse, nicht zuletzt Krebs. Oder- vielleicht war es wieder dasselbe, was sie kurz nach dem KZ bekommen hatte?

Als der Doktor sie untersuchte, war alles ganz anders, aber nicht unbedingt ungefährlich. Er erklärte uns, dass Esther viel zu wenig schlief, wonach ihr Gehirn nicht mehr in der Lage war, das Erlernte zu verarbeiten, und sie sich schlecht auf neue Inhalte einlassen konnte.

Ich und Immanuel waren ziemlich baff, damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Das, was wir hörten, war nämlich keine Krankheit im üblichen Sinne, doch sowas hatte natürlich das Potential, krank zu machen.

Er sah mich überrascht an und fragte: „Aber du bringst sie doch immer jeden Tag um acht ins Bett, oder?" Ich nickte. „Und du singst ihr doch immer etwas vor, damit sie besser schläft?" „Ja, natürlich. Sie ist doch mein Kind!" Der Arzt schob seine Brille auf die Nasenspitze und blickte Esther ernst an. Diese wich ihm aus. „Gibt es vielleicht etwas, was du sagen möchtest?", erkundigte er sich sanft, „etwas, dass dir Angst macht oder dich bedrückt?" Doch Esther blieb schüchtern und schüttelte nur wortlos den Kopf. Und wir konnten auch nichts anderes tun, als die Praxis ohne wirkliche Gewissheit zu verlassen. Aber zu Hause, nachdem sie sich ein wenig von dem Arztbesuch erholen konnte, knöpften wir uns unsere Kleine noch mal vor. „Esther, wir machen uns wirklich Sorgen um dich!", beschwichtigte Immanuel sie, „wenn es möglich ist, würden wir dir gerne helfen. Aber dafür musst du uns sagen, was los ist, okay? Man kann nämlich nichts bekämpfen, wenn man nicht weiß, was der Auslöser war. Das verstehst du doch, oder?" Esther nickte zwar, doch ich war mir trotzdem nicht sicher, ob sie wirklich wusste, was das geheißen war. Immerhin war sie erst sieben Jahre alt. Ich selbst hatte keine Ahnung, ob ich das in ihrem Alter begriffen hätte oder nicht.

Wir aßen ganz normal zu Abend. Um Esther wirklich klarzumachen, dass sie uns wichtig war und sie immer mit uns reden konnte, weil wir uns um sie sorgten, bereitete ich ihren Lieblingsnachtisch zu: Gemüsesalat mit Tomaten, Mozzarella und Schafskäse. Nicht jedes Geschmack, aber ihr gefiel es, das war schließlich die Hauptsache.

Nach dem Essen unterhielten wir uns noch ein bisschen, wie jeden Abend. Wie immer versuchten wir auch, Esther mit einzubeziehen, aber sie war und blieb ziemlich schweigsam. Wahrscheinlich war sie aufgrund ihres Schlafmangels schon ziemlich müde, außerdem hatte der Arztbesuch sie wohl eingeschüchtert. Also brachte ich sie schon Dreiviertel acht, eine Viertelstunde früher als gewöhnlich, in „die Falle", wie Immanuel manchmal sagte. Wir wünschten uns schöne Träume, sie gab uns beiden noch einen Gute-Nacht-Kuss, dann wurde das Licht gelöscht. Doch diesmal ging ich nicht, wie sonst, schon in die Küche, um mich um das Geschirr zu kümmern, sondern ich hielt an der Tür Wache. Auch Immanuel blieb ganz in der Nähe, damit er, falls etwas Unerwartetes passierte, eingreifen konnte.

Etwa eine halbe Stunde lang tat sich nichts. Ich hörte gleichmäßige Atemzüge, Esther schlief wohl vermutlich schon.

Doch dann kam plötzlich Bewegung in die Sache. Ich hörte, wie jemand den Lichtschalter wieder anknipste. Ich zuckte zusammen. War das Esther- oder war da noch jemand anderes mit im Zimmer? Aber wie sollte er dort hinein gelangt sein? Durch das Fenster?- War das im dritten Stock nicht etwas hoch?

Immanuel spürte meine Unruhe und Erregung und riss sofort die Kinderzimmertür auf. Und dort saß die Kleine, auf ihrem Bett, und sie hatte ein Buch in der Hand. Mich dünkte, ich hätte es schon einmal irgendwo gesehen, ich kam bloß nicht drauf.

Aus großen Augen sah unsere Tochter uns an, sie hatte die letzte Seite immer noch aufgeschlagen und hielt ihren Zeigefinger auf die Zeile, auf der sie aufgehört hatte. „Was soll denn das?", schimpfte Immanuel, „lesen kannst du doch tagsüber, aber die Nacht ist zum Schlafen da! Kein Wunder, dass du immer so müde bist! Und wir dachten, mit dir sei sonst etwas!" Ich stieß ihm unauffällig meinen Ellenbogen in die Seite, denn Esther machte sich schon ganz klein, wirkte nahezu ängstlich. Immanuel ging auf sie zu und setzte sich auf die Bettkante. Behutsam strich er ihr über den Rücken. „Ich hab das nicht so gemeint!", erklärte er mit ruhiger Stimme, „ich hab mir doch nur Sorgen um dich gemacht!" Dann warf er einen Blick auf das Buch, das noch immer in ihrer Hand lag, und-stieß einen Schrei aus, wie ich ihn noch nie von ihm gehört hatte. Irgendwas konnte jetzt echt nicht mehr mit rechten Dingen zu gehen!

„Rahel, komm' doch mal!", forderte er mich auf. Nur widerwillig, mit sichtlichem Respekt, trat ich näher und nahm meiner Tochter vorsichtig das Buch aus der Hand.

Auch ich war geschockt und musste mich erstmal setzen, auf den Stuhl, der immer neben Esthers Bett stand. Denn, was sie da gerade las, war: das Tagebuch der Anne Frank!

„Wo hast du das Buch her, Liebling!" „Aus der Bibliothek!", antwortete sie, leise, darauf gefasst, dass sie bald Ärger bekommen würde. „Und warum liest du es?", wollte Immanuel wissen. Sie schluckte und ihre Augen wurden feucht. „Ich dachte erst, es ist interessant, ein Tagebuch von jemanden anderem zu lesen, was er so alles gedacht und erlebt hat. Aber dann hat Anne mir richtig leidgetan, weil sie doch geschlagen worden ist und sie so wenig zu essen hatte. Und jetzt sind auch ihre Schwester- die heißt genauso wie Mirabells Mama- und ihre Mutter und wahrscheinlich auch ihr Vater gestorben, und ich muss unbedingt wissen, ob nun Anne trotzdem überlebt und wie es mit ihr generell weitergeht..." Ich fasste mir ein Herz, atmete tief durch und fragte: „Weißt du eigentlich, dass wir beide auch im KZ waren?" Sie riss erschrocken die Augen auf. „N-n-nein!", stammelte sie. Ich nickte traurig, und erzählte ihr, dass sie in Auschwitz geboren wurde, ein paar Monate nach dem Tod ihres leiblichen Vaters. „War das wirklich so schlimm?", wollte sie mit angehaltenem Atem wissen. Ich nickte. „Ja. Anne Frank war in einem der vielen Außenlager in Auschwitz, in Bergen-Belsen. Sie war sehr talentiert und hatte vor, Schriftstellerin zu werden, aber die Veröffentlichung ihres Buches hat sie leider nicht mehr erlebt. Ihr Vater kam jedoch lebend aus dem KZ, während seine ganze Familie umgekommen war. Und zu Ehren seiner Tochter, die mit nur vierzehn, noch nicht ganz fünfzehn Jahren starb, veröffentlichte er ihr Tagebuch. Es verkaufte sich rasch, und ist, obwohl es erst vor zwei Jahren rauskam, das berühmteste Tagebuch weltweit."

Esther war sehr berührt von Annes Schicksal, wollte aber auch von mir aus erster Hand berichtet wissen, was damals genau geschah. Damit sie abends aber nicht solche Angst hatte, lasen wir das Buch fortan immer zusammen. Da konnte sie auch Fragen stellen, wenn sie etwas nicht verstand. Und ich sagte ihr, dass ich es nie zulassen würde, dass so etwas wieder passierte, und Immanuel auch nicht.

Tja, was soll ich sagen, ihre und meine Geschichte endete so, wie sie auch begann: im KZ...

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?On viuen les histories. Descobreix ara