Kapitel 15- Vom Verlorensein und finden

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Mir blieb fast das Herz stehen, als ich den Platz, auf dem eben noch zwei kleine Mädchen gestanden hatten, leer vorfand. Was war nur mit ihnen geschehen?- Entführt, vergewaltigt und liegengelassen, oder gar gleich ermordet?- Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Die ganze Zeit über hatte ich aufgepasst, sie beschützt, umsorgt, und jetzt, ausgerechnet jetzt, wo die Fahne des Friedens wieder wehte, verschwand meine Tochter plötzlich, und mit ihr Mirabell, das Mädchen meiner kranken Freundin. Margot würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie nicht zurückbrachte. Eher würde sie vor Gram sterben.

Hilflos sah ich mich um. Verlassen und ausgestorben lag die Straße da. Weit und breit waren keine Kinder zu sehen. Viele mochten verschleppt worden oder geflüchtet sein, eines mit einer Lungenentzündung oder Grippe dürfte während des Krieges schlechte Chancen gehabt haben, von einem Arzt behandelt zu werden, wo die rar geworden waren, ebenso wie die Medikamente, denn das Geld der Staatskasse wurde nur sinnlos in Waffen reingepulvert. Wortwörtlich. Ich fühlte mich mit den Eltern verbunden, die auf diese oder ähnliche Weise ihre Kinder verloren hatten. Immerhin hätte das mit meiner eigenen Tochter leicht auch passieren können. Vielleicht war es sogar schon geschehen. Jedenfalls war sie nicht bei mir, und ich machte mir große Sorgen.

„Bitte, lieber Gott!", betete ich, „bitte mach', dass ich die beiden finde, sie sind doch noch so..." Ich unterbrach mich, als in der Stille der Einsamkeit plötzlich ein erfrischendes Lachen ertönte. Und irgendwie klang es so, als wären der bzw. diejenigen, die es ausstießen, noch ganz neu auf dieser Erde... Aufgeregt rannte ich in die Richtung, aus der dieses Geräusch gekommen war. Meine Beine gehorchten mir noch nicht ganz, und auch mein Atem war noch nicht ganz der Alte. Jetzt, wo nicht wie jeden Tag die Schwerstarbeit im KZ anstand, wurde mir erst richtig bewusst, wie erschöpft ich war. Doch das spielte gerade keine Rolle mehr. Ich musste Mirabell und Esther so schnell wie möglich finden, bevor noch ein Unglück geschah...

„Hallo?" Bei dem kleinen, verkohlten Haus gab es zwar eine Klingel, aber die war sichtlich so demoliert, dass sie sicher nicht mehr funktionierte. Also benutzte ich den Türklopfer. „Hallo?", rief ich nochmal, diesmal kräftiger. Endlich kam von oben eine Reaktion. Schwere Schritte kamen mir immer näher. Ein junger Mann, unrasiert, aber, das musste ich zugeben, dennoch nicht ganz unattraktiv, stand wenige Sekunden später vor mir. Er trug zwar einen verhältnismäßig dicken Uniform, aber man konnte trotzdem seine Rippen hindurch erkennen. Auch er war abgemagert, nur vielleicht nicht so schlimm wie ich. Es wunderte mich in der Tat, dass er zwar ausgezehrt, aber nicht verletzt war. Die meisten Soldaten, die im Krieg gewesen waren, hatten leichte bis schwere Verletzungen davongetragen, und seinem Aussehen nach zu urteilen war er durchaus in einem Alter, in dem er eingezogen werden konnte. Ob er wohl desertiert war?- Das würde zumindest erklären, warum er sich in diesem von Asche und Rauch gebrandmarkten Haus auf- und versteckt hielt. Denn auf die Verweigerung des Kriegsdienstes drohte früher das KZ, und jetzt wohl immer noch die Todesstrafe. Mehr oder weniger grausam.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Er erstarrte über meine stramme Haltung. „Oder- sind sie von der SS?" „Aber nein!" Erschrocken über die Nennung meines ärgsten Feindes zuckte ich zusammen. „Ich habe nur sowas gehört, und da dachte ich, ich frage mal, ob Sie nicht..." „Mama, bist du das?" Vier kleine Kinderfüße kamen die Treppe herunter getrampelt. Mein Herz schlug schneller, und- „Mira! Esther!" Ich rannte auf die beiden zu und umarmte sie so fest, dass es beinahe wehtat, weil es an meinen Knochen rieb. Die Kleinen verzogen das Gesicht, doch auch sie freuten sich sichtlich, mich wiederzusehen, vor allem meine Tochter. Nachdem ich sie so liebevoll begrüßt hatte, setzte ich sogleich wieder ein strenges Gesicht auf. „Wie konnten ihr es wagen, einfach wegzugehen?! Ich hab euch doch gesagt, dass ihr dort bleiben und auf mich warten solltet! Das war doch eindeutig formuliert, oder nicht?!" Beschämt blickten die beiden zu Boden. Ihnen tat es wirklich leicht. Kinder waren nun mal sehr sprunghaft. Trotzdem konnte ich sowas nicht einfach durchgehen lassen. Draußen lauerten genug böse Menschen, die sich gerne an Kindern oder sogar erwachsenen Frauen vergriffen. Der Krieg hatte vielen die Partner genommen, und einige versuchten, ihre Befriedigung anderweitig auf schändliche Weise zu stillen. Irgendwo konnte man die Intention ja verstehen, aber die Mittel waren definitiv falsch.

„Ähm, entschuldigen Sie, aber... das war eigentlich meine Schuld, die Kinder können gar nichts dafür..." „So?" Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. „Na, dann lassen Sie mal hören, was Sie zu sagen haben!" „Also", fuhr er fort, „das war so... Ich bin kurz rausgegangen, wollte mich mal erkundigen, ob meine Hilfe gebraucht wird, und da habe ich... vor der alten Schule, Sie wissen schon, die zu einem Hospital umfunktioniert wurde... naja, und da habe ich die beiden Mädels hier gefunden, sie standen da ganz verloren da, und ich dachte, sie hätten niemanden mehr, der sich um sie kümmert, und da habe ich sie kurzerhand mitgenommen. Sie haben irgendwas von einer Frau gefaselt, die sie dort wieder abholen wollte, aber ich habe wohl nicht richtig zugehört. Naja, und manche geben ja auch solche Versprechen, die sie nie einlösen oder auch nur zu halten gedenken." „Aber Sie hätten doch wenigstens eine Weile warten können!", warf ich vorwurfsvoll ein, „ich meine, ich war ja nur für eine Viertelstunde fort. Das ist ja durchaus überschaubar." „Naja, wie dem auch sei..." Die Situation war dem Fremden sichtlich peinlich, also lenkte er von dem Geschehnis ab. Ich konnte das schon gut nachvollziehen, ließ ihn also gewähren. „Wollen Sie nicht mit nach oben kommen?", erkundigte er sich höflich, „die Kleinen würden sich bestimmt auch freuen, wir haben so schön miteinander gespielt... Und Ihnen könnte ich auch eine Tasse Kaffee und etwas Kuchen anbieten..." Misstrauisch musterte ich ihn. Erst jetzt fiel mir auf, dass er eine amerikanische Uniform trug. „Und Sie haben da auch keine Hintergrundgedanken?", vergewisserte ich mich, dass er nichts Böses im Schilde führte. „Aber nein!", beschwichtigte er mich, „das ist wirklich nur nett gemeint!" „Okay..." Ich folgte ihm zwar immer noch vorsichtig, immer damit rechnend, dass etwas Unerwartetes passierte, aber die Aussicht auf Kuchen und Kaffee lockte einfach zu sehr, als dass ich das Angebot hätte abschlagen können. Dennoch würde ich schon eine Weile brauchen, um Menschen wieder auf Anhieb vertrauen zu können. Im Allgemeinen glaubte ich an das Gute von Menschen, aber längst nicht bei jedem.

Die frisch gedeckte Tafel erinnerte mich ans versprochene Paradies. Ich konnte nicht genießen, ich schlang alles förmlich hinter, der Zucker stieg mir zu Kopf wie purer Alkohol. Ich war nichts außer trockenes Brot, Muckefuck und verdorbenen Tee gewohnt. Ich hätte es mir nie träumen lassen, wieder in den Genuss von frischem Kaffee und Kuchen zu gelangen. Auch die Kinder hauten ordentlich zu. Sie konnten schneller essen, als man gucken konnte.

„Ihr hattet wohl in letzter Zeit nicht viel zwischen den Zähnen, was?", erkundigte sich der Offizier, nachdem er uns heimlich eine Weile lang beobachtet hatte. „Ach, wir haben ja alle irgendwo hungern müssen, nicht wahr?", erwiderte ich vage. Er nickte. „Ja, da haben Sie wohl recht." Mit einer Serviette putzte ich mir und den Kindern den Mund. Auch das erschien mir als zuvor unerreichbarer Luxus. Im KZ wusste man gar nicht, wie „Hygiene" überhaupt geschrieben wird!

„Woher kommen Sie eigentlich?", fragte ich, so unbefangen wie möglich. Er wandte den Kopf zu mir. „Aus Amerika natürlich!", antwortete er schnell. „Aha." Prüfend sah ich ihn an. Und da ich fest, dass da etwas faul war. „Ah, und warum tragen Sie dann unter ihrer Uniform ein T-Shirt mit der Schweizer Flagge?" Ertappt zog er seinen Ärmel über das Rot-Weiß. „Naja, ähm." „Sie sind also gebürtiger Schweizer?" „Ja", gab er schließlich zu, „wissen Sie- ich bin von dort aus nach Amerika geflüchtet, und wurde quasi einer von ihnen..." „Aha." Ich glaubte ihm noch immer kein Wort, denn die Schweiz war kriegsneutral geblieben, so viel hatte ich schon in Erfahrung bringen können. Wieso also hätte er nach den USA fliehen sollen?

„Hat's euch geschmeckt?" Er wandte sich mehr an die Kinder als an mich, aber mir war das ganz recht. Er mochte vielleicht glauben, dass er die Mädchen davon überzeugen konnte, dass er ein ehrlicher Mensch war, aber mir brauchte er nichts vorzumachen. Ich sah es ihm an der Nasenspitze an, dass er log.

„Kommt, Kinder, lasst uns wieder gehen!", forderte ich, doch es war gar nicht so leicht, die beiden davon zu überzeugen, mir zu folgen. Sie hatten den angeblichen Schweizer sofort in ihr Herz geschlossen, wollten mit ihm spielen. Freilich, er besaß Puppen und dazu noch ein feines Haus, so etwas konnte ich ihnen natürlich nicht bieten. Aber ich war Esthers Mutter und für ihre Freundin Mirabell so etwas wie eine inoffizielle Patentante. Auf jeden Fall hatte ich die Verantwortung für beide und ich wollte sie nicht länger in der Obhut eines fremden, schwindelnden Mannes lassen. „Los jetzt, oder es gibt heute kein Abendbrot!" Das saß natürlich. Egal, wie lange man Lebenszeit im KZ verbracht hatte, man kannte den ohnmächtigen Hunger und fürchtete nichts mehr als ihn. Nie wollte man so etwas wieder erleben müssen.

„Schade, dass ihr schon so früh wieder aufbrechen müsst. Wir hätten sicher einen schönen Abend miteinander haben können!" Meine Lippen wurden schmal wie ein Strich an der Schultafel. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!", flötete ich, bevor ich hinauseilte und die Kinder mit mir zog.

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?Where stories live. Discover now