Kapitel 17- Gelüftete Geheimnisse

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Nach einem in meinen Augen ausgiebigen Frühstück- es gab trockenes, aber frisches Brot und Kaffee statt Muckefuck- machte ich mich mit den Kindern auf den Weg, um Margot zu suchen. Ich brauchte meine Freundin, die schon ganz unruhige Mirabell ihre Mutter.

Die „Krankenstation" der Amis sollte sich hier ganz in der Nähe befinden, was ja auch verständlich war, da viele ehemalige Häftlinge schnelle Hilfe benötigten und nicht erst noch lange transportiert werden konnten. Die Aussicht darauf, bald wieder bei ihrer Mutter zu sein, hellte Mirabell sichtlich auf, sie ging brav und ohne zu Murren an meiner Hand. Esther folgte ihrer älteren Freundin. Ich hatte ihr gesagt, sie solle sich mal vorstellen, wie sie sich fühlen würde, wenn sie plötzlich von mir getrennt sein würde, und das hatte offenbar seine Wirkung erzielt.

Da wir die ganze Zeit beisammen gewesen waren und dasselbe gesehen und erlebt hatten, gab es nichts, worüber wir hätten reden sollen, also schwiegen wir die meiste Zeit. Nur Mirabell fragte hin und wieder, wann wir endlich da wären, aber ich musste sie immer enttäuschen, indem ich sagte, dass ich nicht wüsste, wie lange genau wir noch laufen müssten, aber ich würde ihr sofort sagen, wenn ich etwas sehen würde, dass nach medizinischer Versorgung aussah.

Lange Fußmärsche waren wir gewohnt, und dieser erfolgte ja nicht einmal mit einem leeren Magen, wie im Lager. Meine Beine krampften nicht mehr, die Muskeln schmerzten nicht bei jeder kleinen Bewegung. Ich blickte zuversichtlich in die Zukunft. Jetzt, da wir es soweit schon geschafft hatten, würden wir auch noch den Rest gut überstehen.

Ich blinzelte. War das da vorne nicht der Offizier, der sich gestern nach meinem Wohlergehen erkundigt und anschließend die apathische Margot fortgetragen hatten?- Jedenfalls schien er mich zu kennen, denn er kam schnellen Schrittes auf uns zu. Die Mädchen wichen ängstlich zurück, mit Männern in Uniformen verbanden sie eher laute, Befehle erteilende Ungeheuer, die auch nicht davor scheuten, ordentlich zuzuschlagen. Dass er ein Ami und kein SS-Mann war, konnten sie freilich noch nicht wissen.

„Sie sind sicher gekommen, um ihre Freundin zu besuchen, right?" Ich nickte. Es wunderte mich schon etwas, dass er sich das so genau gemerkt hatte. Es gab viele Menschen, ob nun aus dem KZ, der Zivilbevölkerung oder von der Front, die verletzt oder krank waren und Hilfe brauchten, da konnte man sich unmöglich die Familien- und Freundeskonstellationen alle merken. Wahrscheinlich war er an mir interessiert, ich hoffte, nur auf freundschaftlicher Basis. Mein Mann war gestorben und ich wollte nicht nochmal eine Liebesbeziehung eingehen, die mit dem Tod des Partners endete. Er griff in seine Tasche und stülpte mir eine Maske über. Als ob ich das nicht selbst hätte tun können! „Seinen Sie vorsichtig, Mylady!", warnte er mich. „Etwas Ansteckendes?", wollte ich wissen. „Yes, I'm sorry!", antwortete er und ich verstand es mit meinen Grundkenntnissen in Englisch. „Kann ich jetzt zu meiner Mama?" Ungeduldig wippte Mirabell auf ihren Zehenspitzen. Mich kannte sie zwar so gut, dass sie mir vertraute, aber natürlich blieb ihre Mutter Bezugsperson Nummer eins. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ein Kind zu seiner Mama will. Doch der Offizier schüttelte den Kopf. „I'm so sorry, my little one! I can't let you go do your mama yet!" Obwohl Englisch für Mirabell eine unbekannte Sprache war, konnte sie natürlich an der Mimik und des Kopfschüttelns erkennen, dass ihr sehnlicher Wunsch nicht erfüllt werden würde. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. „Ich will aber, ich will, ich will!", schrie sie. Erschrocken sah ich zu ihr. Bisher war sie mir als liebes, gehorsames Mädchen in Erinnerung geblieben. Doch nun sah ich ein, dass das wohl am KZ gelegen hatte. Dort lernte man früh, dass man nicht mehr lange zu leben hatte, wenn man aufmuckte. Aber hier, in Freiheit, und ohne diese bösen, gewalttätigen Männer fühlte sie sich sicher, und weil sie plötzlich wieder mehr zu essen bekam, hatte sie natürlich auch mehr Energie, die sie Sachen tun ließ, zu denen sie zuvor nicht imstande gewesen wäre. Zumindest standen die Chancen bei ihr gut, dass sie eines Tages einmal alles vergessen würde, und fort an wie ein unbeschwertes Kind aufwuchs.

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?Where stories live. Discover now