Kapitel 6- Eine schwere Entscheidung

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Die Praxis und die darin beschäftigten Mediziner gab es nur der SS wegen. Wir Häftlinge hatten keinen Nutzen davon. Später erfuhr ich, dass in einem bayrischen KZ sogar Bewohner eines umliegenden Dorfes daraus ihre Vorteile zogen. Zuvor hatten sie in ihrer Heimat keinen einzigen Arzt gehabt, das nächste Krankenhaus war weit entfernt, die wenigstens besaßen ein Auto, das Hauptverkehrsmittel blieb die Pferdekutsche. Da kam ihnen eine Praxis in unmittelbarer Nähe schon gelegen.

Was sich hinter den Mauern bzw. den Zäunen abspielte, war größtenteils vor ihren Augen verborgen. Ihnen wurde gesagt, dass dort Schwerstverbrecher arbeiteten, die deshalb eingesperrt waren, damit sie niemanden aus dem Volk etwas zuleide tun konnten. Dabei waren die wenigsten von den KZ-Häftlingen Straftäter, die meisten waren Juden, Ausländer, Andersdenkende, politische Gegner, ferner Anhänger der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) oder Sinti und Roma. Letztere wurden als „asozial" abgestempelt.

Es war normalerweise ungewöhnlich, dass sich die Ärzte um das Wohlergehen der Häftlinge sorgten. Es bestand dann sogar die Gefahr für sie, einfach an die Wand gestellt und erschossen zu werden, weil sie sich mit den „Untermenschen" eingelassen hatten, oder dass sie die Seite wechseln und selbst im KZ arbeiten mussten.

Dennoch empfand eine der Ärztinnen dort so etwas wie Mitleid mit mir. In der ersten Zeit hatte ich keine Mühe damit gehabt, meinen Bauch zu verstecken, weil er quasi gar nicht vorhanden war. Und sie sprach mich darauf an. „Du bekommst ein Baby, oder?", fragte sich sanft. Ich nickte. „Ja, das ist das Einzige, was ich noch habe!" „Aber es zieht dir viel Kraft heraus!", gab sie zu bedenken. „Ich wurde hier sitzen retten, denn ich noch retten kann!", widersprach ich mit fester Stimme. „Dabei könntest du dein eigenes Leben verlieren!" „Das Leben meines Kindes ist mir wichtiger!" „Ohne seine Mutter hat es keine Überlebenschance!" „Ich bin seine Mutter!" „Du könntest sterben! Du bist geschwächt..." „Ich werde leben, bei allem, was mir heilig ist! Für mein Baby." „Man kann sein Leben von keinem anderen abhängig machen!", wies sie mich zurecht, „hier gilt nur, sich selbst durchzubringen!" „Da irren Sie sich!" Meine Augen blitzten auf. „Nächstenliebe ist nicht nur was für Gläubige!" „Nein, sondern für Idealisten!" Ihr letztes Wort schmerzte, erinnerte zu sehr an die NS-Ideologie, nach der ich und alle anderen Juden unwürdig waren. „Ich mache dir ein Angebot..." „Ja, lassen Sie mich frei, dann ist alles Leid hier vorbei!" „nein, das liegt leider nicht in meiner Macht. Aber ich kann dir dabei helfen, dich von deinem Baby zu befreien!" „Was soll das heißen, was meinen Sie damit? Befreien?", fragte ich mit angehaltenem Atem, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kannte. „Ich kann dir eine sichere Abtreibung garantieren, ganz ohne Risiko!" Ich riss die Augen auf. „Und was, wenn ich nicht will?!" „Ach, komm schon, Mädchen! Es ist zu deiner eigenen Sicherheit! In deinem Zustand kann es sowieso passieren, dass du kein lebendes Baby zur Welt bringst. Eine Geburt schwächt dich nur unnötig!" „Trotzdem, ich werde für es kämpfen!" „Selbstschutz ist relevant!" „Nicht im Krieg!" „Wir sind hier kein Kriegsschauplatz. Hier findet die Vernichtung des eigenen Volkes statt, ein innerer Krieg!" So stritten wir noch eine ganze Weile weiter. Schließlich erbat ich mir Bedenkzeit bis zum nächsten Tag, sie willigte ein. Dann trennten wir uns wieder, sie ging in den Wohlstand, und ich in die Armut zurück...

Ich wälzte mich in den wenigen Stunden, in denen uns Ruhe gegönnt war, hin und her. Grübelte. Natürlich war es das Sicherste, das Kind einfach loszuwerden. Ich war geschwächt, abgemagert, eine schwere Geburt könnte zu meinem Tod führen. Aber mein Baby war das Einzige, was ich noch hatte. Alles andere war mir schon abgenommen worden. Meine Papiere, mein Handtäschchen, meine Geldbörse. Selbst meine Kleidung war mir vom Leib gerissen worden, und meinen Ehering hatte ich bei der Arbeit verloren, wiedersehen würde ich ihn nicht mehr. Mein Mann hatte dich grausamen, menschenverachtenden Zustände hier nicht überlebt. Schon allein ihm zuliebe sollte ich weiterleben, und mit mir unser beider Nachwuchs. Es war zudem auch noch die einzige Erinnerung an ihn, denn selbst mein gehegtes und gepflegtes Bilderalbum hatte dran glauben müssen. Ich hoffte, es würde ihm ähnlich sehen, wenn es erst auf die Welt kommen würde...


Flashback:

"Möchten Sie, Rahel Weinhold, den hier anwesenden Christian Geisinger zum Mann nehmen, und ihm in guten und bösen Tagen, bei Gesundheit und Krankheit, in Freude und Schmerz, beistehen und ihm treu bleiben, bis der Tod euch scheidet?" "Ja", hauchte ich. Es kam mir wie von selbst über die Lippen. Ich brauchte nicht zu überlegen, denn ich wusste schon, dass er die Liebe meines Lebens war. Ich brauchte nur in seine Augen zu sehen, seine Liebe zu mir war so tief wie die Weltmeere und meine zu ihm ebenso. Was sollte ich da noch zweifeln?

Christian hatte seinen Teil schon getan und das Jawort gegeben. Jetzt kam der Moment, dem ich schon lang entgegenfieberte: der langersehnte, erste Kuss!

Ja, wir waren bis jetzt keusch geblieben, hatten weder miteinander geschlafen noch uns geküsst. Dafür war es jetzt umso schöner.

Seine Lippen fühlten sich wie Samt an, weich, anschmiegsam, teuer, geradezu unbezahlbar. Stürmisch erwiderte ich seine Zärtlichkeit. Die Menge applaudierte. Ich war ganz warm und kribbelig vor Freude. Endlich, endlich war es soweit!

Zwei kleine süße Mädchen hielten meine Schleppe, dahinter waren noch welche, die Blumen streuten. Ich wünschte, dass wir auch einmal solche kleinen, zauberhaften Wesen bekommen würden. Und damit meinte ich nicht die Rosen!

Aber um das zu kriegen, musste man ja erst was machen. Doch dafür hatten wir gerade keine Zeit. Erst einmal nahmen wir die vielen lieben Glückwünsche entgegen, dann widmeten wir uns Kaffee und Kuchen. Anschließend spielte eine Band, wir tanzten auf der Tanzfläche, die meisten zusammen, manche ledige aber auch einzeln.

Es folgten die gewohnten Spiele. Ich drehte mich von der Menge fort, und warf allen noh unverheirateten weiblichen Gästen meinen Brautstrauß zu. Wer ihn fing, wurde Gerüchten zufolge als Erstes eine Braut.

Eines der Mädchen, dass zuvor Blumen gestreut hatte, erwies sich als wahres Blumenkind und reckte den Straß stolz in die Höhe. Sie strahlte übers ganze Gesicht und hätte glücklicher nicht sein können. Genau wie ich. Auch wenn ich bezweifelte, dass sie gleich als Nächstes unter die Haube kommen würde.

Wir hatten Zeit, so unendlich viel Zeit. Erst um Mitternacht erklärten wir die Feier für beendet. Doch die Gäste bekamen wir nur langsam fort, vor allem die, die einen über den Durst getrunken hatten.

Ich war schon ganz aufgeregt. Damals gab es ja nicht so eine Aufklärung wie heutzutage, von Verhütung ganz zu schweigen. Meistens, vor allem in der Religion, war es so üblich, dass man fürs erste Mal bis zur Hochzeitsnacht wartete. Und da passierte es nicht selten, dass ein gutes Dreivierteljahr später schon das erste Kindchen ankam. 

Ich hatte oft gehört, dass viele Frauen unfreiwillig schwanger wurden, eben immer, wenn der Mann gerade Lust hatte, egal, wie geschwächt sie schon war, wie viele Kinder es schon gab oder wie lange die jüngste Geburt her war. Es war also kaum verwunderlich, dass es viele Großfamilien gab. Viele Kinder und wenig Geld.

Für eine Vergewaltigung in der Ehe machte man sich erst 1997 strafbar, und auch da war es natürlich schwer nachzuvollziehen, inwiefern denn so ein Fall vorlag. Aber ich glaubte nicht, dass Christian auch so war. Er war ja auch sonst nicht wie die anderen Jungs und Männer gewesen. Scher würde er mich auch in dieser Hinsicht nicht enttäuschen.

Er war tatsächlich ganz vorsichtig und behutsam. Es tat kaum weh, aber ich spürte, dass mir Blut die Beine herunterlief. Aber er beruhigte mich gleich und sagte mir, dass das normal wäre. "Du bist eben jetzt keine Jungfrau mehr!", hauchte er zärtlich. 

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?Where stories live. Discover now