Kapitel 24- Gemischte Gefühle

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Als ich „daheim" ankam, wurde ich schon erwartet. Allerdings nicht von Wilhelmine, sondern von Immanuel. Er stand mit verschränkten Armen vor der Haustür und versperrte mir den Weg. Was wollte er nur? Hatte ich etwas falsch gemacht?

„Hallo, Rahel!", meinte er ruhig, doch ich erwiderte seine Begrüßung nicht und fragte stattdessen: „Was willst du denn von mir?" Er tat überrascht und zog seine buschigen Augenbrauen hoch. „Darf ich den nicht hier sein? Störe ich dich etwa?" „Allerdings. Ich wollte gerne da rein, zu den Kindern. Ich muss sehen, wie es Esther geht!" „Deiner Tochter?" Sofort wurden seine Züge wieder weich. Er war zwar freundlich und scheute durchaus keine Nähe und Gespräche, aber irgendwo konnte er einem auch Unnahbarkeit schenken, die die Kinder von ihm jedoch abstreiften wie die Strahlen der Mittagssonne den Tau des Morgens. „Hatte sie etwa wieder einen Rückfall?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht, aber sie ist trotzdem immer noch ziemlich schwach, und hatte... naja... einen kleinen Unfall..." „Was ist denn passiert?", erkundigte er sich. So langsam verstand ich nicht, warum ein amerikanischer Offizier seine kostbare Zeit mit einer kleinen Familie verschwendete, die er nicht mal gut kannte noch mit der er verwandt war. In dieser Hinsicht musste ich dem Leutnant sogar Recht geben, ich verstand nicht, warum er so eine große Anteilnahme an unserem Leben zeigte, dass weder an Geld noch an sonstigen Besitz verfügte.

Ich erzählte ihm, was sich vor Kurzem ereignet hatte. Er machte ein sehr ernstes Gesicht. „Du musst aufpassen, dass die Wunde nicht dreckig wird und sich infiziert!", mahnte er, „eine Blutvergiftung ist das Letzte, was die Kleine jetzt gebrauchen kann... Oh Gott, ich mag gar nicht daran denken, wie viele noch jetzt an den Folgen dieses Krieges sterben..." Ich nickte. Auch mir waren solche Geschichten leider nicht fremd. Eine Garantie gab es nie. An den meisten Orten waren die Hygienekonzepte immer noch sehr schlecht. Es gab zu viele Missstände, die nicht von jetzt auf gleich beseitigt werden konnten.

Eine Weile lang schwiegen wir. Es brauchte nicht gesagt werden, was durch unsere Köpfe spukte. Ähnliche Gedanken, die da durcheinander wirbelten.

„Aber der eigentliche Grund, weshalb ich hergekommen bin, ist nicht der, dass ich mit dir über Dinge nachsinnen wollte, die wir eh nicht mehr ändern können." „Sondern?" „Du hast doch sicher vor, dich bei dem Wiederaufbau unseres Dorfs zu beteiligen?" „Ja, aber was ist denn da dabei?- Das machen doch viele Frauen, die ein bisschen Geld brauchen!" „Ja, das schon, aber ich finde, du hast in deinem Leben schon genug hart arbeiten müssen!" „Wie kommst du denn darauf?" Ich war verwirrt. Was meinte er denn damit? Hatte er etwa inzwischen herausgefunden, dass ich- im KZ gewesen war?- „Naja, man sieht es doch an deinen Händen. Sie sind voller Schwielen und Kratzer!" „Ach so." Erleichtert atmete ich auf. Er hatte also doch nichts bemerkt. „Aber- was soll ich stattdessen tun?- Ich kann doch nicht die ganze Zeit bei Wilhelmine hocken und nur faul Däumchen drehen!" „Davon war ja auch keine Rede!" Er lächelte. „Ich hatte eher an etwas gedacht, was dir viel besser zu Gesicht stehen würde und was du leicht und locker über die Finger bekommst!" „Und das wäre?" Langsam wurde ich unruhig, ich wollte so schnell wie möglich zu meiner Tochter, sie machte sich ja sicher auch Sorgen, wenn ihre Mama so lange fortblieb. Dabei sollte sie jetzt ja keine Aufregung haben! „Ich wollte dich fragen, ob- du eine Haushaltshilfe werden wölltest...?" Ich runzelte die Stirn. „Von mir aus gern, wenn's dann so viel bringt, dass ich mich und die Kinder über Wasser halten kann... Aber- wo soll es denn sein?- Ich hab doch kein Auto!" „Das haben ja auch nur die wenigsten!", nickte Immanuel. „Na, und wo soll ich dann hin?" „Zu mir natürlich!" Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als wäre es das normalste der Welt, eine junge Witwe als Haushälterin bei sich einzustellen. Doch da hatte er wohl nicht mit mir gerechnet. Erschrocken wich ich drei Schritte zurück. „Nein, nein, ich will- ich will nicht!", keuchte ich. Es hatte ja so kommen müssen. Aber ich wollte nicht mehr dazu gezwungen sein, etwas zu tun, nach dem mir nicht der Sinn stand, dass ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte. Wie schon gesagt, ich war keineswegs die richtige Frau für einen Offizier, arm, verwitwet, mit einem Kind, dass genauso abgemagert wie ich ist. Und die Trümmerfrauen verdienten verhältnismäßig ja auch ganz gut, wenn ich es geschickt anstellte, würde es schon ausreichen. Trotzdem hatte Immanuel sich wohl andere Ziele gesetzt, die er schon halb erfüllt wähnte. „W- wieso denn nicht?" Er guckte so verstört wie ein erschrecktes Eichhörnchen, dass er mir fast schon leid tat. Aber möglicherweise war das von ihm ja auch so gewollt. Ich durfte mein Herz nur nicht erweichen lassen!

„Wie soll das denn gehen?", warf ich ein, „ich meine- wie und wo soll ich da leben?- Du hast doch nur eine kleine Wohnung, da gibt's ja nicht so viel Platz!" „Das stimmt schon." „Ich will nicht, dass wir uns ins Gehege kommen." Er grinste hämisch. „Du kannst gerne auch mit mir in einem Bett schlafen!" Fassungslos warf ich ihm einen missbilligenden Blick zu. „Untersteh' dich!", wies ich ihm streng mit erhobenen Zeigefinger zurecht. Doch er lachte nur auf. „Schon gut! Im Wohnzimmer ist noch genug Platz für drei Personen.- Die Kinder nimmst du doch mit, oder?" „Natürlich!", begehrte ich auf, „wo soll ich sie denn lassen? Und weggeben- niemals!" Dann biss ich mir auf die Lippen. Das musste ja so klingen, als wäre ich einverstanden, zumal es in Immanuels Augen schon triumphierend glitzerte. „Würde, wenn..." „Na, willst du nun oder nicht?", fragte er, etwas schroff und ungeduldig. „Ich... überlege es mir nochmal...", druckste ich vage herum. Ich wollte meinen dünnen Körper gerade an ihm vorbeipressen, um ins Haus zu gelangen. Da hielt Immanuel mich noch kurz an der Hand fest, blickte mir tief in die Augen und murmelte kaum lautlos: „Ich würde mich freuen!" Es war wie ein sachter Windzug, der an mir vorbei zog. Und doch formte er Worte, die mein Herz höher schlagen ließen. Mann, ich musste mich echt zusammenreißen! Ich konnte keinem ein leichtes Spiel machen, vor allem keinen, der so mysteriös wie Immanuel war. Wenn ich ihn aber näher kennenlernte und herausfand, dass seine Vergangenheit in Ordnung ist,...

Aber ich zwang mich, nicht weiter zu denken. Es durfte eben nicht sein, und wenn ich es nicht glaubte, dann musste ich es mir eben einreden!

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?Où les histoires vivent. Découvrez maintenant