Kapitel 18- Die letzte Chance

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Die Schritte, die mich zurück zu Wilhelmines Haus führten, fielen schwer auf das Kopfsteinpflaster. Die Konfrontation mit den Opfern unmenschlicher und lebensvernichtender Gewalt drückte einen wirklich wortwörtlich wie ein Stein zu Boden. Und die Erkenntnis, dass Elisabeth nicht die Letzte sein würde, die wegen solcher Schikanen starb.

Ich verzog das Gesicht, als ich eintrat. Ein Geruch drang in meine Nase, der mich durch meine Kindheit hindurch begleitet und geängstigt hatte: ein seltsames Gemisch aus verschiedenen Heilkräutern, angewendet und eigenhändig gepflückt von armen Leuten bei Kinderkrankheiten, die sich keine aufwendige Medizin leisten konnten. Diese schmeckte natürlich besser, weil sie mit Zucker oder Honig gesüßt war, der die Bitterstoffe verdrängte. Ob sie dann auch schneller Wirkung zeigte, tja, darüber konnte man sich streiten. Manche schworen auf die Heilkraft der Natur und würden bis zum bittersten Ende nichts anderes einnehmen, und wenn man es ihnen direkt vor die Nase halten würde. Ich hingegen hatte nie eine Wahl gehabt; es musste eben das Erstbeste sein. Die Nazis unterstellten uns Juden zwar, dass wir, weil viele von uns im Finanzwesen tätig waren (was sich bereits über Jahrhunderte entwickelt hat, Schuld an der Weltwirtschaftskrise trügen, was natürlich genauso wenig stimmte wie all die andren Anschuldigungen und Vorurteile. Meine Familie war eigentlich immer sehr wohlhabend gewesen, bis zu jedem Jahr der finanziellen Katastrophe, 1929, da verloren wir mehr als ein Viertel unseres Vermögens. Und nicht mal von dem war jetzt noch etwas übrig. Alles hatte man uns genommen.

Plötzlich hielt ich inne in meinen Überlegungen. Wenn Wilhelmine von dem wenigen, dass sie besaß, extra einen Kräutersud braute, dann musste das einen triftigen Grund haben. Und der würde sicherlich nichts Gutes verheißen...

Ich riss mir schnell Jacke und Schuhe vom Leib, dann stürmte ich in die obere Etage. Es musste etwas mit den Kindern geschehen sein! Die Frage war nur, mit welchem.

Wilhelmine kniete vor der Matratze, die sie gestern für uns zur Verfügung gestellt hatte. Ihr Hände formten Kreise; sie tat Wadenwickel um die Füße eines kleinen Kindes. Es war ein Mädchen. Meine Tochter!

Ich dachte daran, was Jakob gesagt hatte. Seine gesamte eigene Familie lebte nicht mehr. Doch sollte er sich eines Tages bereit dazu fühlen, einen Neustart zu wagen, würde er in der Lage sein, wieder Vater werden zu können. Aber ich war unfruchtbar. Vor mir lag mein einziges Kind, und es würde auch mein letztes sein. Mit ihm konnte der Begriff „Familie" weiterleben- oder sterben. Sie war noch so klein, zierlich, dünn! Ihr Körper war kaum widerstandsfähig. Ich wollte nicht an das denken, was am wahrscheinlichsten wäre, aber immer wieder kamen Bilder in mir hoch, Bilder von keuchenden, stöhnenden Kindern, die ihre letzten Atemzüge taten.

Ich wollte meinen Kopf mit ganzer Kraft an die Wand schlagen, um den Schmerz tief in meiner Seele körperlich werden zu lassen. Greif- und sichtbar. Aber das würde Esther nicht viel nützen. Sie brauchte mich. Jetzt. Bevor es zu spät war.

Ich hockte mich neben sie. Sie röchelte. Jede Minute ein Stoßatemzug. Ihre blauen Augen waren nicht mehr klar wie ein Waldsee, sondern trüb wie ein verseuchter Teich. „Erkennst du mich?", fragte ich sanft, aber sie machte keine Anstalten, zu antworteten oder auch nur ihren Kopf in meine Richtung zu drehen. Starr stierte sie geradeaus.

„Was ist passiert?" Wilhelmine zitterte. Für einen Moment wirkte es so, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Es fiel ihr schwer, sic zu fassen. „Ich- weiß nicht. Sie wirkte auf einmal so teilnahmslos, dann kam das Fieber dazu..." „Schlägt die Arznei wenigstens an?" „Nein, ich glaube, sie ist zu gering dosiert, aber mehr führe ich nicht." „Was sollen wir tun?" Mein Kopf fühlte sich leer an, als würde ich vor einer Prüfung sitzen, die ich nie gewählt hatte. Nur, dass hier mehr auf dem Spiel stand als ein Abschluss und ein Arbeitsplatz in dieser zerbombten Welt.

Geboren neben Asche und Leichen- Überlebenschance?Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon