Kapitel 3- Die ersten Wochen

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Aufgrund der schweren körperlichen Arbeit und der mangelnden Ernährung machten viele irgendwann schlapp. Menschen, die vorher noch gerade so als arbeitsfähig eingestuft wurden, waren nicht mal mehr in der Lage, einen Hammer in der Luft zu halten, ohne zusammenzubrechen. Wenn sie fortgeholt wurden, dann wussten wir anderen schon, dass wir sie nie wiedersehen würden. Wenn es uns möglich war, verabschiedeten wir uns von ihnen. Manche wurden allerdings auch geholt, wenn wir arbeiteten oder schliefen. Eine halbe Stunde elendes Ersticken durch Zyklon B erwartete sie.

Uns war allen die Haare geschoren worden, vor allem für uns Frauen sehr schmerzhaft. Wir trugen alle dieselbe verwachsene Häftlingskleidung, monoton, trostlos. Unterschieden wurden wir nur durch unsere auftatöwierten Nummern, und unseren unterschiedlichen Schicksalen, die hier aber keinen der SS interessierten. Wir waren nützlich, schlugen wichtige Erze aus dem festen Gestein, maßgeblich für den Straßenbau zur schnellen Fortbewegung des Militärs. Gedankt wurde uns nie.

Inzwischen war ich schon im fünften Monat, doch noch immer so rank und schlank wie zuvor. Ich machte mir solche Sorgen um mein Baby! Nachts, wenn wir uns, gedrängt in die klitzekleinen Barracken, für ein paar Stunden ausruhen durften, streichelte ich über meinen nicht sichtbaren Bauch, summte leise Kinderlieder und sprach ihm Mut zu. Und ich hatte das hoffnungsvolle Gefühl, dass dies half. Zumindest hatte ich keine Schmerzen in der Bauchgegend und erlitt auch keine Fehlgeburt.

Meinen Mann hatte ich schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen, genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, an dem wir getrennt worden waren. Ich hoffte, dass er wohlauf war, wenn man das unter diesen Bedingungen überhaupt so bezeichnen konnte.

Margot dagegen begegnete ich öfter, aber auch ihr ging es nicht gut. Sie war zwar nicht so stark abgemagert wie die meisten anderen Häftlinge, wurde auch von keiner schlimmen Krankheit heimgesucht, aber sie war sehr schwach und klagte darüber, dass ihre Kleine immerzu wimmerte, weil sie ihr einfach keine Milch geben konnte. Ihr dünner Körper streikte. Ihr nicht mehr sichtbarer Busen wollte nichts mehr herausgeben.

Ich fasste mir ein Herz und bot ihr an, Mirabell für sie zu stillen. Im fünften Monat produzierten meine Brüste auch schon Milch, die ich für das süße Mädchen gerne gab. Zuerst lehnte Margot ab. „Du brauchst sie doch für dein eigenes Baby!", hatte sie zu bedenken gegeben. Ich teilte diese Meinung allerdings nicht. „Wo auch immer man sich auf dieser Welt aufhält, ob nun hier, in diesem schrecklichen Konzentrationslager, oder ob woanders, nie sollte man seine Menschlichkeit verlieren!" Und das tat ich auch nicht. Ich stillte die kleine Mirabell, und sie strahlte mich immer an, wenn sie aus meiner Brust ihre Nahrung bekommen hatte. Sie war ein so reizendes, dankbares Mädchen. Sie sollte nicht sterben!


Flashback:

Im Bombenhagel erreichte ich gerade noch so die Praxis meines Hausarztes. Er war noch da, musste sich aber, ebenso wie wir, aufgrund seiner jüdischen Herkunft versteckt halten. Deswegen hielt er Untersuchungen nur noch in seinem Keller ab, in den er die dafür notwendigen Instrumente gebracht hatte. Seit der Krieg begonnen hatte, behandelte er ausschließlich Juden, zur Sicherheit. Aber er sagte selbst, wie leid es ihm tat, ehrliche Leute sterben oder verkümmern lassen zu müssen, die nur von Vergünstigungen oder auch leeren Versprechen des NS-Regimes zu Lügnern und Betrügern gemacht wurden.

Normalerweise verließ ich unser Haus nie, Christian besorgte uns immer das Nötige zum Leben. Aber ich hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Immer wieder wurde ich von Übelkeit geplagt, die bis hin zum Erbrechen führte. Ich konnte mir nicht erklären, warum, aber da ich auch ein schmaleres Gesicht bekam und mich generell in einem geschwächten Zustand befand, befürchtete mein Mann, ich hätte eine der vielen Infektionskrankheiten, die hier kursierten und oft nur schleichend schlimmer wurden und dementsprechend erst spät und manchmal auch zu spät entdeckt wurden. Er war es auch, der mir dringend dazu geraten hatte, den Hausarzt aufzusuchen. Aber ich solle ja vorsichtig sein.

Der alte Mann erkannte mich sofort. Mit seinem schon krummen Rücken und den ältlichen O-Beinen kam er auf mich zu und reichte mir freundlich die Hand. "Na, Rahel, wo drückt der Schuh?", erkundigte er sich höflich. Er wusste von fast jedem Juden aus dem Dorf den Namen, oft auch das Alter. Wir hingegen hatten keine Ahnung, wie alt er war, ich konnte es nur schwer einschätzen: er mochte zwischen siebzig und achtzig Jahre alt sein.

Ich erzählte ihm, was ich für Beschwerden hatte. Er tastete mit seinen faltigen Händen meine Bauch- und Magengegend ab. "Mmh, ich denke, dass du schwanger bist!" Erschrocken schaute ich zu ihm auf. "Bist du dir da ganz sicher?" Er schüttelte den Kopf. "Nein, bin ich nicht. Aber alles deutet daraufhin. Ich schätze, dass du in der sechsten Woche bist. Genaueres kann ich dir erst sagen, wenn das Herz des Kindes schlägt, also in etwa zwei bis drei Wochen..."

"Du hast bestimmt auch deine Monatsblutung nicht mehr gehabt?" Ich nickte, doch das ging vielen Frauen so. Die Essensversorgung war schlecht, es herrschte Hunger und Armut. Familienplanung hatte keiner mehr auf dem Schirm. Wenn eine Frau doch irgendwie schwanger wurde, versuchte sie krampfhaft, sich und ihr Kind irgendwie durchzubringen. Geplant war es nicht. 

Ich erhob mich wieder. Langsam und schwerfällig. Ich wusste nicht wirklich, ob ich mich über diese Neuigkeit freuen sollte oder nicht. Es herrschte Krieg, wir waren arm und wurden noch dazu verfolgt. Andererseits hatten wir uns schon immer Kinder gewünscht und befanden uns in einem guten und fruchtbaren Alter.

Nachdenklich verließ ich die Praxis heimlich durch den Hintereingang, um den Doktor nicht zu verraten, und war in Gedanken schon ganz bei meinem nächsten Besuch, der mir endliche vollständige Gewissheit bringen würde. Aber dazu kam es  nicht mehr...

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