Kapitel 8- Nutzen für die Wissenschaft

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Wir Häftlinge wurden nicht nur als Arbeitstiere missbraucht, die nach Belieben ermordet werden konnten, wenn sie ihrer Aufgabe nicht mehr nachkamen. An uns wurden auch noch nicht sichere Medikamente getestet, denn was machte es schon, wenn ein ohnehin schon Ausgezehrter ein bisschen Gift eingespritzt bekam?

Natürlich ist es notwendig, Arzneien erst zu testen, bevor man sie an die breite Öffentlichkeit vermarktet und alle an dem dahinraffen, was ihnen eigentlich helfen sollte. Aber es gab auch schon damals genug Freiwillige, die ihr Leben gerne der Medizin und Forschung gespendet hätten. Aber wir hatten ja keine Wahl. Verweigern gab es nicht, und wenn, wären wir sowieso alle vergast worden. Wir mussten uns eben fügen, wenn wir ausgesucht wurden, und diese bestialischen Experimente mitmachen. Man sollte schließlich ja noch einen Nutzen von uns haben, bevor wir endgültig abkratzten. Man hatte uns schließlich nicht umsonst extra mit dem Zug hierher gebracht.

Die „Niederlage bei Stalingrad" war uns natürlich allen im Gedächtnis geblieben. Wir horchten uns um, aber wir erfuhren nichts mehr darüber, wie es an unserer Heimatfront stand, die SS schaute ab sofort nur noch Komödien, nicht aber, was im Krieg passierte, an. Wahrscheinlich war auch sie müde von diesem ganzen Geballere und sehnte sich insgeheim nach Frieden, auch wenn sie sicher ahnten, dass der Sieg nicht und gehören würde.

Manchmal warfen wir und besorgte Blicke zu, Blicke, die die SS-Männer nicht verstanden. Wir durften ja nichts sagen, sonst wäre herausgekommen, dass wir gelauscht hatten. Aber wir wussten auch so, was gemeint war. Die alte Frau sagte einmal zu mir: „Es wird nicht mehr lange dauern!", aber ich konnte mir nicht wirklich erklären, was sie damit meinte: den Krieg, das Bestehen der KZ oder unser Leben? Auf meine stumme Frage antwortete sie jedoch nicht.

Natürlich war jedem klar, dass ich ein Kind erwartete. Trotz der mangelhaften Versorgung hatte ich an Gewicht zugelegt, und manchmal legte ich während der Arbeit, wenn ich ausnahmsweise mal eine Hand frei hatte, unbewusst eine Hand auf die leichte Wölbung.

Eines Tages stürmte ein SS-Mann in „meine" Küche, ich zuckte erschrocken zusammen und er rief nur: „Mitkommen!" Ich schnürte noch schnell das Feuer, ließ sonst alles stehen und liegen und folgte ihm. Mir war bewusst, dass er sicher nichts Gutes mit mir vorhatte. Normalerweise wurde man hier ja nicht von seiner Arbeit abgehalten.

„Sie sind also schwanger?", erkundigte sich Mengele, ein berühmtberüchtigter KZ-Arzt und Kriegsverbrecher, sachlich. Ich nickte nur. Es war ja sowieso offensichtlich und Widerstand zwecklos. „Im wievielten Monat?" „Achten, glaube ich..." „In Ordnung!", sagte er, und forderte mich dann auf, mich untenrum frei zu machen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich wusste, dass ich mich diesem Befehl nicht widersetzen konnte, weil es sonst gleich ganz vorbei war. Was wollte er nur von mir? Meinen geschwächten Körper vergewaltigen? Eine Frühgeburt auslösen, die mein abgemagertes Baby wahrscheinlich nicht überleben würde? Kalter Schweiß brach mir aus, lieber würde ich jetzt im Bergwerk stehen und schwer arbeiten, als wehrlos allein mit diesem Kriegsverbrecher zu sein!

„Na, wird's bald!", keifte er. Ich gehorchte widerwillig. Schnell hatte ich meine dünne Häftlingskleidung abgestreift. Er zückte eine Pipette. Als sie etwas dreiviertelst gefüllt war, zog er sie wieder aus dem Fläschen, in das er sie hineingetunkt hatte, und bewegte sich mit seinem fahrbaren Stuhl auf mich zu. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber das hätte keinen Sinn gehabt. Gekriegt hätte er mich eh.

Schützend hielt ich beide Hände vor meinen Bauch, als könnte ich das Kind so davon abhalten, zu früh und tot geboren zu werden. „Beine breit!", forderte Mengele. Mit meinem größten innerlichen Widerstand leistete ich dem Folge.

Er pumpte die ätzende Flüssigkeit durch meine Scheide in meinen Körper. Dann schob er mein Oberteil hoch, gelte es ein, und untersuchte mit einem Ultraschallgerät meinen Bauch. „Das Kind bewegt sich von der Flüssigkeit fort!", konstatierte er und schrieb das auch so in sein Protokoll. Dann entließ er mich.

Mit zitternden Füßen kleidete ich mich wieder an. Ich versuchte angestrengt, einen Tritt meines Babys auszumachen, aber ich vermochte nichts zu spüren. War es etwa bereits tot?

Glühende Angst erfüllte mich. Wenn dies wirklich so wäre, würde ich lieber in den Hochstromzaun rennen, als unsinnigerweise weiterleben zu müssen. Auf der Schwelle drehte ich mich noch einmal zu dem grausamen Arzt um. „Wir mein Baby jetzt sterben?", wollte ich mit angehaltenem Atem wissen. „Nein. Aber du wirst nie wieder ein Kind bekommen können, also sieh' zu, wie du es durchbringst!", erwiderte er kalt. Ich hätte ihm, der mich für seine Versuche unfruchtbar gemacht hatte, in diesem Moment der Erkenntnis am liebsten den Hals umgedreht, so wütend war ich auf ihn. Als er später, 1979, bei einem Schlaganfall ertrank, empfand ich nur Genugtuung. 


Flashback:

"Mama?" "Ja?" Mutter stand gerade in der Küche vor einem Kessel, darunter loderten die Flammen eines Feuers. Ein elektrischer Ofen war in unserem Dorf damals selten, und wir konnten uns ohnehin keinen leisten.

"Warum sind manche Menschen nett zu anderen und manche nicht?" Überrascht drehte sich Mutter zu mir um. Dabei hatte sie das Feuer nicht unter Kontrolle, und ein kleiner Funken fiel auf den Holzfußboden. Vor allem noch früher, als die Häuser noch dicht an dicht standen und Strohdächer besaßen, kam es des Öfteren zu verheerenden Stadtbränden.

Auch unser Haus hätte in Rauch und Asche aufgehen können, hätte Mutter nicht schnell den Topflappen gegriffen und ihn über die Stelle geworfen. Sofort erstickte der Qualm.

"Frag' gefälligst deinen Vater, oder halt den Mund!", zischte sie, aber ich wusste, dass sie es im Grunde nicht böse gemeint hatte, ihr aber der Schreck noch in den Knochen saß. Mit dem rettenden Topflappen scheuchte sie mich aus der Küche hinaus.

Ich fand meinen Vater auf dem Feld, er wendete das Heu für unsere und auch andere Hasen. Für jedes Kilo, dass er an andere verkaufte, bekam er Geld und das brauchten wir auch dringend, da wir sonst nicht viel besaßen. Aber er war trotzdem sehr fröhlicher Natur und meistens guter Dinge, und wenn ich ihm auf dem Feld half, besserte sich seine Laune umso mehr und er begann Geschichten zu erzählen, von der Zeit, als er noch ein Kind war, und die liebte ich über alles!

"Hallo, Papa!" "Na, Kleine, kommst du helfen?" "Du Papa, ich habe da mal eine Frage..." Unschlüssig stand ich da. Würde er mich jetzt auch abweisen, so wie Mama. "Schieß' los!", forderte er mich stattdessen auf. Und als ich die Frage gestellt hatte, hörte er für einen Moment auf mit seiner Arbeit. "Ja, weißt du, irgendwo liegt das in der Natur. Es gibt ja auch gute und böse Tiere, und es gibt fleischfressende Pflanzen und Unwetter, mit denen die Erde dich ein Stück selbst zerstört. Aber das ist natürlich nicht in Ordnung, wenn jemand jemanden Unrecht tut. Deswegen gibt es ja Gesetze, an die sich jeder halten muss, und wenn nicht, dann muss er Strafe zahlen oder kommt sogar ins Gefängnis, je nachdem, wie schlimm das, was er getan hat, war!" "Aber wird denn wirklich jeder bestraft, der böse gewesen ist?" Vater seufzte. "Leider nein. Viele Verbrecher verstehen es, sich zu tarnen oder abzuhauen. Und manche Opfer trauen sich auch nicht, davon zu erzählen." "Aber warum denn nicht?", wollte ich wissen, "wenn mir jemand was tun würde, dann würde ich euch doch gleich sagen, was passiert ist!" "Das sollst du ja auch, aber manche schüchtern ihre Opfer eben auch ein und drohen ihnen. Stell' dir doch mal vor, jemand meint zu dir: "Wenn du das deinen Eltern erzählst, dann schlachte ich all eure Hasen!" Wie sähe es dann aus? Würdest du dann immer noch mit der Wahrheit herausrücken?" Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war wirklich schwierig. Ich hatte noch nicht zu Ende überlegt, da griff Vater plötzlich nach meiner Hand. "Aber wir, wir wollen immer zusammenhalten!", raunte er zu, "denn das Gute zusammen ist stets stärker als das Böse!"

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