Kapitel 21- Vergeltung

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„Rahel, komm' doch mal!" „Was ist denn?" Ich war zurück zu Wilhelmines Haus, stand in der Küche und buk, zum ersten Mal seit Jahren, einen Kuchen. Natürlich hatte ich dabei improvisieren müssen, weil längst nicht alle dafür benötigten Lebensmittel in der Menge oder überhaupt da waren, und doch gab es ein berauschendes, mächtiges Gefühl, sein eigener Herr zu sein und dass einem die Genüsse des Lebens nicht länger verwehrt blieben. Ich war also gerade im Inbegriff gewesen, ein Feuer zu entzünden und den Teig zu erwärmen- einen modernen Ofen gab es hier nicht- als Wilhelmines Stimme an mein Ohr drang. Es hatte an der Tür geklopft und eigentlich wollte sie nur mal kurz „nachsehen, wer mir da auflauert". Was also hatte ich damit zu tun?

Ich erinnerte mich noch deutlich an das letzte Mal, da ich zur Tür gerufen worden war. Es war auch ein ehemaliger Häftling gewesen, der mich gesucht und erfolgreich gefunden hatte, und mir nichts Böses wollte. Aber mir wurde schlecht bei dem Gedanken, jemand, der weniger Gutes im Sinne hatte, könne mich aufspüren. An meinem Arm war noch immer meine Nummer eingeritzt, selbst die Zeit ließ sie nur langsam verblassen. Anhand der Ziffern könnte man mich noch immer identifizieren.

„Rahel, nun komm' schon!" Ungeduld schwang in Wilhelmines Stimme mit. „Es ist doch nur jemand, der dir eine Entschädigung für's KZ zahlen will!" Ich zuckte bei jenem Wort zusammen. Noch weiter sträubten sich meine Glieder, meinen Platz in der Küche zu verlassen!

Wie leicht es jedoch von den Lippen der Hausherrin kam! Aber wie hätte sie auch wissen sollen, wie ich mich gerade fühlte, und dass das Thema „Konzentrationslager" allein durch die Befreiung nicht endete. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, wie man so ein mehrgleisiges Verbrechen jemals wieder gut machen konnte, schon gar nicht mit Geld! Wir, und vor allem die Kinder, die Jugendlichen, waren um wertvolle Lebensjahre beraubt worden. Um unseren Stolz, um unsere Würde, um unsere Wünsche und Träume und Talente und um unsere Zukunft. Frauen wie mich hatten sie unfruchtbar gemacht, ungefragt. Ich fühlte mich kaum noch weiblich, und das nicht nur, weil mein Haar nur noch aus winzigen Stoppeln statt aus dichten, dicken Locken bestand.

„Nun mach' schon, Rahel, sei nicht dumm! Nimm' das Geld an! Es ist rar bei uns, und wenigstens ein kleiner Teil von euren Entbehrungen sollte auf jeden Fall wiedergutgemacht werden! Wenn du's schon nicht für dich selbst tust, dann tu es wenigstens für die Kinder, die wollen doch auch einmal ein anständiges Leben führen und nicht in einer Bruchbude hocken und darauf warten, dass sie für ein paar Mark die Straße fegen dürfen!" Die Tatsache, dass Wilhelmine ihr eigenes Haus als Bruchbude bezeichnete, berührte mich auf eine seltsame Weise. Sie war so offen und ehrlich, kritikfähig, mutig, selbstlos und tapfer. Natürlich konnte man ihre Lebensgeschichte mit meiner nicht vergleichen, doch zweifelsfrei hatte auch die Zivilbevölkerung fernab den Lagern vieles durchmachen müssen. Ich fand es krass, dass es trotzdem noch Menschen gab, die Widerstand leisteten und ihr Leben für den Sinn der Gerechtigkeit gegeben hätten.

Zerknirscht und langsam und gebeugt trat ich zum Eingang. Ich erkannte sofort die Uniform eines Amis. „Sind Sie Frau Rahel Geisinger?", erkundigte er sich. Ich nickte nur und hielt den Kopf gesenkt. Er überreichte mir den Betrag nicht bar, sondern durch einen Scheck, ich hatte keine Ahnung mehr, wie man so etwas einlöst, da würde ich wohl Wilhelmine um Rat fragen müssen. Ach, die Gute, sie tat ja auch so schon so viel für mich! „Ist was?", wollte sie nun wissen, und allein der mitleidige, besorgte Tonfall brachte mich wortwörtlich zu Boden. Ich schmiss mich vor dem Offizier auf die Kniee, der ganz offensichtlich nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er war einfach nur gekommen, um seine Pflicht zu tun, und nicht, um sich eine herzzerreißende Geschichte anzuhören. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Plötzlich brach alles aus mir heraus. „Was nützt mir das?" schluchzte ich, „was nützt mir Geld und ein Dach über dem Kopf, wenn ich mit meinem Leben nicht fertig werde? Was nützt mir jetziges Glück, wo jahrelang nur Trauer und Erschöpfung geherrscht hat?- Nein, nein, so können Sie es nicht vergelten, niemals! Aber machen Sie, dass die Gedanken, die Gefühle, die Erinnerungen aufhören, löschen Sie die vergangenen drei Jahre aus meinem Kopf- außer Esther und Mirabell, die sollen bleiben! Machen Sie, dass mein Mann wieder gesund und lebendig wird! Und Elisabeth! Und alle anderen! Machen Sie, dass Margot den Kampf gegen Typhus übersteht! Und- uns- sorgen Sie dafür, dass ich wieder Kinder bekommen kann, uns sollen die Geburten auch noch so schmerzhaft und anstrengend sein, aber ich will nie wieder solches Leid erleben wie dort!" „Darüber habe ich leider keine Macht!", erwiderte der Ami, doch das klang so gefühlskalt und theoretisch, dass ich dem nicht wirklich Glauben schenkte. „Aber nehmen Sie das an, was Sie kriegen können! Sie werden von nun an jeden Monat einen Scheck bekommen! Geld regiert die Welt!" „Nein", widersprach ich entschieden, „Liebe!"

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