Kapitel 1

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Er ist es nicht wert. Diese Worte hatte sie zusammen mit den Aufzeichnungen ihrer Vorlesung auf den Notizblock gekritzelt. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken. Sie war froh, sich von Theo getrennt zu haben, aber sie vermisste ihn. Aber war es wirklich er, den sie vermisste? Oder vermisste sie einfach nur jemanden, mit dem sie reden konnte? Travis konnte seine Finger nicht von Eli lassen und war ihr im Moment keine große Hilfe. Andy war beschäftigt mit ihrem neuen Job. Maya und Carina hatten nur Augen füreinander. Und Jack war immer noch im Krankenhaus. Es ging ihm zwar schon besser, aber er war immer noch ziemlich geschwächt.
„Nachdem wir dieses Thema nun abgeschlossen haben, widmen wir uns nun der Klassifikation psychischer Störungen", hörte Vic ihren Professor sagen, der sie wieder ein wenig zurückholte aus ihrer Trance. Aber auch nur kurz. Sie konnte sich heute überhaupt nicht auf die Vorlesung konzentrieren, obwohl die Themen interessant waren.
Sie war auch seit fast einer Woche nicht in der Arbeit gewesen. Sie hatte sich freigenommen, um ihren Kopf ein wenig freizukriegen. Aber rückblickend gesehen hätte es ihr wohl gut getan, wenn sie in die Arbeit gegangen wäre.
So leise wie möglich packte sie ihre Sachen zusammen und verließ den Hörsaal. Sie würde heute sowieso nicht mehr zuhören können. Ihre Gedanken schweiften zu sehr ab. Nicht nur zu Theo. Er war es gar nicht, der ihr am meisten fehlte. Ihr fehlte Dean, bei dem sie sich hätte auskotzen können. Er hätte ihr zugehört. Immer. Und plötzlich fragte sie sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich für ihn entschieden hätte statt für Theo. Vielleicht wäre Dean nicht gestorben. Auf jeden Fall wäre sie jetzt nicht in dieser Situation mit Theo. Dean hätte ihr das nie angetan. Dafür hatte er sie viel zu sehr geliebt, das wusste sie.
Und ihr fehlte auch Lucas. Er hätte sie in den Arm genommen und sie wäre an ihn gekuschelt eingeschlafen. Er hatte sie immer beruhigen können. Und vielleicht würde sie nie wieder jemanden so lieben können, wie sie ihn geliebt hatte. Eigentlich hatte sie angenommen, sie hätte das bereits akzeptiert. Aber in Momenten wie diesen tat es immer noch weh.
Plötzlich fühlte sie sich schuldig. Ihre Beziehung war in die Brüche gegangen, aber ansonsten ging es ihr gut. Sie hatte keinen Grund, sich zu beschweren. Es gab so viele Menschen, die es viel schlechter hatten als sie. Und trotzdem schaffte sie es, so egoistisch zu sein.
„Hey", sagte sie, als sie an Jack's Bett stand und lächelte müde. „Wie geht es dir?" Sie hatte sich dazu entschieden, ihm noch einen kurzen Besuch abzustatten.
Er rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. „Es wird langsam. Mein Kopf brummt immer noch wie Hölle, aber ich fühle mich besser." Dann sah er sie besorgt an. „Wie geht es dir? Ich kann mir vorstellen, dass die Sache mit Theo nicht so einfach für dich ist."
Wie recht er doch hatte. Aber es war nicht wirklich das, worüber sie mit ihm jetzt reden wollte. Jack hatte genügend eigene Probleme. „Mir geht es gut." Das war definitiv gelogen, aber es war auch egal. Sie konnte die Situation ohnehin nicht mehr ändern. Was geschehen war, war geschehen. Sie musste jetzt das beste daraus machen und nach vorne schauen. In ein paar Tagen wäre sie vielleicht bereit, ihren Frust zu nutzen, um sich auf ihr Studium zu konzentrieren.
„Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen wollte", gestand Jack und nestelte an seiner Bettdecke herum. Er schien nervös zu sein und sie fragte sich, was er ihr wohl so wichtiges zu sagen hatte. „Auf dem Feuerwehrball... also bevor das alles passiert ist, habe ich Theo gesehen. Er hat mit Kate geknutscht. Ich weiß nicht, ob ihr da schon getrennt wart oder noch nicht. Aber ich wollte es dir auf jeden Fall nicht verheimlichen."
Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Nicht wegen dieser Information. Das hatte sie bereits gewusst. Theo hatte es ihr einen Tag nach dem Feuerwehrball gebeichtet und damit war auch geklärt gewesen, dass endgültig Schluss war. Was ihr jedoch Übelkeit bereitete, war, dass sie jetzt auch wusste, warum Theo ihr das nicht verheimlicht hatte. Sie war ihm sogar noch dankbar gewesen, dass es er es ihr gesagt hatte. Sie war froh gewesen, dass er gleich reinen Tisch gemacht und nicht versucht hatte, irgendwie ihre Beziehung zu retten. Aber jetzt wurde ihr klar, dass er das nur getan hatte, weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Jack hatte die beiden zusammen erwischt und er hätte es ihr ohnehin früher oder später gesagt. Theo wollte ihm nur zuvorkommen, damit er nicht ganz so blöd dastand. „Danke, dass du es mir gesagt hast", erwiderte sie verbittert.
Jack sah sie besorgt an. „Ich wusste nicht, ob es das richtige ist, es dir zu sagen. Ich hoffe, es macht es nicht noch schlimmer für dich." Er seufzte. „Es tut mir echt leid, Vic."
Er hatte recht. Es machte alles nur noch schlimmer für sie und sie wünschte sich, er hätte nichts gesagt. Aber es war nicht seine Schuld und es wäre nicht fair, ihre Wut jetzt an ihm auszulassen. Theo war der, der ihre Wut verdient hatte. Aber ihn konnte sie im Moment noch nicht einmal ansehen. „Es muss dir nicht leidtun." Sie wäre gern länger bei ihm geblieben, aber sie hielt es nicht aus. Sie wollte weinen und schreien. Aber nicht hier vor Jack. Und vor allem nicht hier im Krankenhaus. Sie wusste genau, wen sie jetzt am allermeisten brauchte. „Ich werde dann mal wieder fahren. Ich muss nochmal in die Uni", log sie. "Gute Besserung, Jack. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht."
„Danke, Vic", erwiderte er. „Pass auf dich auf. Und lass dich nicht so runterziehen. Theo hat es nicht verdient, dass du dir den Kopf über ihn zerbrichst." Vermutlich hatte er recht, doch so einfach war es nicht. Und das musste Jack mindestens genauso gut wissen wie sie. Ihm war schon viel öfter das Herz gebrochen worden. Aber vielleicht hatte er sich einfach irgendwann damit abgefunden. Doch natürlich wusste sie, dass das Quatsch war. Jack hatte in seinem Leben schon so viel Leid erfahren und litt immer noch darunter. Sie glaubte nach wie vor, dass er Deans Verlust noch nicht wirklich verkraftet hatte. Aber das hatte sie ja auch nicht. Und plötzlich fiel ihr der Kuss ein. Sie hatte Jack geküsst. Hatte Theo sich damals genauso gefühlt, wie sie jetzt? Schuldete sie es ihm, dass sie ihm verzieh, weil er ihr verziehen hatte? Aber die Situation war ja ganz anders gewesen. Und ihre Beziehung war sowieso vorbei. Das wäre sie auch gewesen, wenn Theo nichts mit Kate gehabt hätte.
Zwanzig Minuten später stand sie vor Travis' Haus. Er war der einzige, der ihr jetzt helfen konnte. Eigentlich hatte sie ihn nicht belästigen wollen, weil er frisch verliebt war und seine Zeit mit Eli genoss. Aber sie wusste, dass er sie verstehen würde. Und er würde sie bestimmt nicht einfach so wegschicken. Nicht Travis. Sie wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als ihr Blick durchs Wohnzimmerfenster fiel. Da saßen Eli und Travis zusammen mit Theo und Kate! Ausgerechnet! Und sie lachten, als wäre nichts gewesen. Um fair zu sein, musste sie zugeben, dass sie Travis die Sache mit Theo und Kate nicht erzählt hatte. Er konnte unmöglich wissen, wie sehr Theo ihr wehgetan hatte. Und natürlich war Travis auch Theos Freund. Trotzdem konnte sie es nicht fassen. Auch wenn sie die letzten Nächte bei Andy geblieben war, wohnte sie immer noch hier. Und Travis brachte Theo mit. In ihr Zuhause! Vor lauter Ironie lachte sie laut auf. Hatte sich Travis so gefühlt, als sie nichtsahnend Theo mitgebracht hatte? Hatte er sich auch so verletzt und hintergangen gefühlt, obwohl sie keine Ahnung gehabt hatte, woher sich Travis und Theo kannten? Tat sie Travis unrecht? Sie hatte ihm schließlich nicht erzählt, was genau passiert war. Aber sich stattdessen Theos Version anhören? War das wirklich sein ernst? Travis hatte sich einmal bei ihr gemeldet und gefragt, wie es ihr ging. Und sie hatte ihm gesagt, dass sie noch nicht bereit war, darüber zu reden. Aber das bedeutete doch nicht, dass er gleich zu Theo rennen musste, um ihn auszuquetschen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Sie wusste jedoch nicht, ob sie traurig oder einfach nur wütend war. Sie fühlte sich verraten. Travis stand bei ihr immer an erster Stelle. Er war ihre Person und sie liebte ihn über alles. Nicht einmal Lucas hatte ihr so viel bedeutet wie Travis. Aber im Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob Travis auch hinter ihr stand. Am liebsten wäre sie reingegangen und hätte ihm eine Szene gemacht. Aber sie wollte nicht, dass Theo sie in diesem Zustand sah. Und Kate erst recht nicht. Diese Blöße würde sie sich nicht geben. Nicht heute.
Mit tränenüberströmten Wangen lief sie zurück zu ihrem Wagen. Sie wusste nicht, ob sie hoffte, dass Andy Zuhause war oder nicht. In diesem Zustand wollte sie eigentlich niemandem über den Weg laufen. Aber alleine sein wollte sie auch nicht. Sie wollte Gesellschaft haben. Aber jemanden, der nicht zu ihr sagte, dass sie ohne Theo besser dran war. Das hatte sie alles schon tausendmal gehört. Sie fühlte sich so verloren, weil sie niemanden hatte, der mit all dem Drama nichts zu tun hatte. Alle mochten Theo. Und es war, als würde sie die Leute zwingen, sich für eine  Seite zu entscheiden. Am liebsten wäre sie nach Hause gefahren zu ihren Eltern und hätte sich ausgeheult. Aber sie konnte doch nicht als erwachsene Frau heulend vor der Tür ihrer Eltern aufkreuzen. Doch es stimmte gar nicht, dass sie zu niemandem gehen konnte. Sie wollte niemanden, der sie verhätschelte und sich wirklich für ihre Probleme interessierte. Vielleicht war es eher so, dass sie jemanden brauchte, dem diese ganze Sache komplett am Arsch vorbeiging. Jemand, der überhaupt nichts davon wusste und auch ganz sicher nichts davon wissen wollte. Sie hielt kurz an am Straßenrand und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Augenringe waren nicht zu übersehen, doch die konnte sie notfalls damit erklären, dass sie die ganze Nacht gelernt hatte. Sie wartete, bis die Rötung um ihre Augen etwas nachgelassen hatte. Dann setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf und wendete.
„Keine fünf Minuten Ruhe hat man hier. Ständig ist hier was anderes", murrte eine kleine, etwas pummelige Pflegerin, als sie vor der Tür der Entzugsklinik stand. Sie hatte einen Blutdruckapparat in der einen Hand und schob mit der anderen Hand einen Patienten, der im Rollstuhl saß. „Was wollen Sie?"
„Ich möchte Sean Beckett besuchen", erwiderte Vic entschlossen, obwohl sie selbst nicht einmal wusste, ob sie das wirklich wollte. Er würde sich wahrscheinlich nicht allzu sehr über ihren Besuch freuen.

If we have each other - Station 19/Vic x BeckettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt