S I E B E N U N D Z W A N Z I G

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Zu Hause angekommen, habe ich mich peinlicherweise immer noch nicht entschieden, was genau ich jetzt tun soll. Einerseits frage ich mich, ob es wirklich eine so tolle Idee ist, Silas jetzt zu sehen. Doch andererseits fände ich es auch irgendwie blöd, nur mit ihm zu schreiben oder zu telefonieren.

Natürlich spielt auch die Sehnsucht nach ihm eine Rolle und macht eine objektive Entscheidung etwas schwieriger. Ich sollte mich nicht nach ihm sehnen, aber ich habe mittlerweile akzeptiert, dass das momentan einfach noch so ist und es durchaus seine Zeit brauchen wird, bis sich das ändert.

Silas hat es mir einfach angetan – und zwar so richtig. Sowas passiert nun mal.

Wenn ich noch weiter meine Gedanken hin und herwälze, werde ich definitiv nicht zu einer Entscheidung kommen. Also schnappe ich mir kurzerhand meine Autoschlüssel und mache mich auf den Weg.

...

Ich fahre eine ganze Weile im Kreis bis ich endlich das Haus finde, in dem Silas wohnt. Die Siedlung ist, wie ich erwartet habe, eher etwas für wohlhabendere Menschen. Als ich vor besagtem Haus stehe, überprüfe ich die Adresse doppelt, bevor ich mich schließlich traue zu klingeln.

Er wohnt in einem Herrenhaus – wenn ich tatsächlich richtig hier bin. Der Name auf dem Klingelschild ist auf jeden Fall seiner, deshalb gehe ich schwer davon aus, dass er hier wohnt.

Als sich die wuchtige Tür vor mir öffnet und Silas im Rahmen steht, habe ich endgültig Gewissheit.

»Krasses Haus«, ist alles, was ich über die Lippen bringe. Ich könnte mir wirklich selbst eine reinhauen.

»Danke«, antwortet er und wirkt etwas überrumpelt mich zu sehen. Verständlicherweise. Selbst wenn er davon ausging, dass ich eventuell irgendwann mal hier auftauchen könnte, wusste er ja nie, wann das sein würde.

»Es hat meinem Bruder gehört, bevor er gestorben ist. Er hat es mir vermacht. Ich wäre auf jeden Fall auch mit weniger Platz zufrieden gewesen, aber... naja. Ich habe das Gefühl, ihm auf diese Weise nahe zu sein.«

»Das verstehe ich«, sage ich leise.

Eine Weile schauen wir uns nur in die Augen. Das Bernstein seiner Iris leuchtet wie flüssiger Waldhonig im Licht der untergehenden Sonne. Ich könnte ihn ewig so ansehen, doch irgendwann wendet er sich blinzelnd ab fragt mich mit zu Boden gerichtetem Blick: »Möchtest du reinkommen?«

Ich nicke nervös und er lässt mich eintreten. Mit einem lauten Geräusch fällt die Tür hinter mir ins Schloss.

Er geht voran und spricht mit mir über seine Schulter. »Wir gehen ins Wohnzimmer, da kann man sich am besten unterhalten. Eigentlich ist es eher ein Salon, wenn man so will. Die Einrichtung hier ist übrigens genau so, wie man sie von einem solchen Haus erwarten würde. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin ein oder zwei Jahrhunderte in der Zeit zurückgereist. Mein Bruder hat es einer alten Frau abgekauft, die in ein Seniorenheim übergesiedelt ist und seitdem nichts mehr an der Einrichtung geändert.« Ich muss mir trotz der ernsten Situation ein Lächeln verkneifen. Er wirkt sehr nervös und ich bin es so gar nicht von Silas gewohnt, dass er plappert.

Die Wände des breiten Flurs sind mit einem dunklen Holz vertäfelt, kleine Beistelltischchen mit Marmorplatten stehen alle paar Meter an besagten Wänden. Ich finde, ein paar Blumenvasen würden sich noch gut darauf machen, doch irgendwas sagt mir, dass Silas nicht besonders viel Wert auf sowas gibt. Generell finde ich es reichlich bizarr, ihn in dieser Umgebung zu sehen. Seinem Zuhause. Wenn mich jemand gefragt hätte, wie ich mir sein Heim vorstelle, wäre mir vielleicht eher eine minimalistische Wohnung in den Sinn gekommen. Auf jeden Fall wäre mir niemals so ein Palast eingefallen.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer kommen wir noch an einigen anderen Räumen vorbei, bei denen die Türen jeweils alle offen stehen oder mindestens angelehnt sind.

»Du hast keine Ahnung, was für ein Albtraum es ist, das alles hier allein zu putzen«, wirft er ein. Ich lache, nur leise, denn irgendwas an diesem Ort ist sehr respekteinflößend. Ich komme mir fast ein wenig vor, als wäre ich in einem Museum. Ich traue mich nicht, lauter als ein Flüstern zu werden. Selbst meine gedämpften Schritte auf dem dicken dunkelblauen Läufer kommen mir viel zu laut vor.

Irgendwann kommen wir schließlich im Wohnzimmer an und... nun ja. Ich habe eigentlich nichts geringeres erwartet, als das, was ich vor mir sehe. Dennoch überwältigt mich der Anblick dieses riesigen Raumes mit den meterhohen Decken enorm. Statt Farbe oder einer normalen Tapete sind die Wände mit tiefblauem Stoff verkleidet, der mich von der Farbe her ein wenig an das offene Meer erinnert. Er schimmert auch leicht seidig, doch es ist ziemlich deutlich, dass der Stoff noch einiges an Pflege benötigt.

Silas bemerkt meinen Blick und seufzt. »Ich weiß, hier sieht es teilweise etwas verwahrlost aus, ich tu mein Bestes.«

»Hey, ich verurteile hier keinen. Außerdem kann ich das sehr gut verstehen. Ich weiß nicht, ob ich in der Lage wäre, mich annähernd so gut um dieses Anwesen hier zu kümmern wie du.«

»Lieb von dir. Aber ob das ein Anwesen ist, weiß ich nicht. Gehören da nicht auch noch Gärten und Golfspielplätze dazu?« Er legt den Kopf schief und funkelt mich belustigt an. Unwillkürlich spüre ich, wie ich unter seinen Augen wieder ganz nervös werde. Es gibt so Momente in seiner Gegenwart, in denen würde ich mich am liebsten selbst schütteln. Ich finde es manchmal schon echt peinlich, wie unfassbar verfallen ich Silas eigentlich bin.

Ich überspiele die Verlegenheitsröte in meinem Gesicht mit einem lauten Lachen, das von den hohen Wänden widerhallt. »Ich schätze, einen Garten musst du mindestens haben.«

»Naja, zählt auch Vorgarten?«

»Ich würde sagen, ja. Dann hast du also doch ein Anwesen!«

Silas lacht eines seiner seltenen Lachen. »Gut, ich gebe mich geschlagen. Du hast mich.«

Die Doppeldeutigkeit seines letzten Satzes schwebt zwischen uns wie eine unheilvolle Wolke. Ich weiß genau, dass er sich dieser Doppeldeutigkeit genauso wie ich bewusst ist.

Er räuspert sich und deutet schließlich auf eine kleine Sesselgruppe in einer Raumecke. »Komm, wir setzen uns.«

Der Bezug der opulenten, gepolsterten Sessel ist aus einem ähnlichen Satin-artigen, gestreiften Stoff wie die Wände. Hier passt wirklich alles zusammen.

Wir lassen uns auf zwei gegenüberliegenden Sesseln nieder, ein kleiner runder Tisch zwischen uns. Auf der Platte sind ein paar getrocknete Glasränder zu sehen, doch ansonsten nichts. Keine Briefe, keine Keksdose und erst recht keine Vase.

Ich schätze, jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich vielleicht sprechen sollte. 

HerzschaumWhere stories live. Discover now