S E C H S U N D Z W A N Z I G

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Die folgenden Tage vergehen in einem Strudel aus Arbeit und Serien schauen. Das Buch, das mir Susann vor einer gefühlten Ewigkeit mal empfohlen hat, habe ich seit dem letzten Mal, dass ich versucht habe es zu lesen, nicht mehr angerührt.

Ich arbeite, was das Zeug hält. Gut möglich, dass das einfach nur an meiner neu gewonnenen Motivation und ein wenig zu viel Kaffee liegt. Doch ich glaube, dass es auch ein wenig damit zu tun hat, dass ich auf diese Weise nicht so viel an gewisse andere Dinge denken kann.

Vielleicht ist es auch ein wenig ungesund, mich selbst so zu fordern, doch irgendwie tut es mir gerade ganz gut. Ein positiver Nebeneffekt ist natürlich auch, dass ich viel schaffe und mir dadurch in Zukunft einige freie Tage am Stück mehr erlauben kann.

Irgendwann stehe ich auf und strecke mich. Dummerweise geht die ganze Computer-Arbeit richtig auf meinen Rücken. Scheint, als würde mein teurer Bürostuhl nicht das halten, was er verspricht.

Ich laufe durchs Wohnzimmer, mein Handy in der Hand, und starre Susanns Kontakt an.

In den letzten Tagen habe ich bereits gefühlt tausend Nachrichten an sie verfasst und wieder gelöscht. Auch heute blicke ich auf eine Nachricht, die ich noch in der Früh kurz nach dem Aufwachen geschrieben habe. Mir fallen schon jetzt einige Tippfehler auf, aber darum geht es im Grunde genommen nicht.

»Hi Susann, ich hoffe, dir geht es gut. Ich weiß, du brauchst Zeit für dich, das ist völlig in Ordnung und ich will dich auch nicht weiter stören. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich für dich da bin und du alles mit mir besprechen kannst, wenn du das willst. Liebe Grüße!«

Bevor ich es mir anders überlegen kann, schicke ich die Nachricht ab. Wenn sie darauf auch nicht reagiert, melde ich mich nicht nochmal bei ihr. Mein Vater hat recht, es ist nicht meine Aufgabe, ihr so lange hinterherzurennen, bis sie wieder in die Freundschaft investieren möchte. Immerhin gehören da auch zwei dazu und ich kann diesen Part nicht allein übernehmen.

Sobald ich den Signalton meiner ausgehenden Nachricht höre, spüre ich förmlich, wie ein tonnenschweres Gewicht von mir abfällt. Es ist gut, dass ich das jetzt mal endlich hinter mich gebracht habe.

Als ich mich wieder an den Schreibtisch setze, verspüre ich unwillkürlich das Verlangen nach einem Karamell-Kaffee. So ein Mist aber auch, dass gerade Silas das Café gehört, in dem sie diesen Kaffee genau perfekt zubereiten, so wie ich ihn mag.

Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, einfach hinzulaufen und mir den Kaffee zu bestellen. Die Frage ist, ob ich es schaffe, ihn zu sehen. Eigentlich habe ich nicht übel Lust, mich selbst auf diese Art zu foltern. Oder ihn. Aber ich habe eben auch nicht besonders viel Freude daran, auf mein liebstes Heißgetränk verzichten zu müssen.

Mir fällt ein, dass es außerdem vielleicht auch nicht schlecht wäre, wenn er von dem Vorfall mit Nathalie weiß. Immerhin hat er auch noch Probleme mit ihr und es geht ihn schon was an, wenn sie einfach herumläuft und andere Leute bedroht, nur weil sie mit ihm zu tun haben.

Ich seufze tief. In letzter Zeit seufze ich so oft am Tag, dass ich es vermutlich nicht mal an vier Händen abzählen könnte.

Ich habe wirklich absolut keine Lust darauf, Silas zu sehen, geschweige denn mit ihm zu reden. Aber es sieht wohl so aus, als käme ich nicht drum rum. Und ich muss mir natürlich auch eingestehen, dass ein nicht gerade kleiner Teil von mir sich freut, ihn wiederzusehen. Ist das masochistisch? Vielleicht.

Als ich aufstehe und mich umziehe, merke ich, wie mein Herzschlag von Sekunde zu Sekunde schneller geht. Ich bin ganz klar nervös.

Durch ein paar tiefe Atemzüge versuche ich, mich etwas zu beruhigen. Das funktioniert zwar nur mäßig, hilft aber wenigstens ein bisschen.

Ich ziehe mir die Schuhe an, irgendeine Jacke, die gerade griffbereit ist, schnappe mir Schlüssel und Geldbeutel, dann mache ich mich auf den Weg.

Mein Schritt beschleunigt sich automatisch und als die Glasfensterfront des Cafés in Sicht kommt, halte ich automatisch Ausschau nach Silas. Ich kann ihn nicht erkennen und das ändert sich leider auch nicht, als ich näher komme.

Ich betrete das Café, welches heute nicht ganz so voll ist wie das letzte Mal, als ich da war. Am Tresen steht Darcy, was mir sofort ein breites Lächeln aufs Gesicht zaubert. »Hey, wie schön dich mal wieder zu sehen!«

Auch sie scheint sich zu freuen und wir unterhalten uns kurz darüber, wie das mit der Übernahme des Cafés zustande kam und dass sie und Greg noch immer ab und an hier arbeiten.

»Wo ist Silas eigentlich? Ist er heute überhaupt da?«, frage ich schließlich, nachdem ich meine Bestellung aufgegeben habe. Darcy schüttelt bedauernd den Kopf. »Nein, heute ist er leider nicht da.«

Enttäuschung macht sich in mir breit. »Oh«, murmle ich. Darcys Miene hellt sich auf. »Aber er hat mir gesagt, dass ich dir das hier geben soll, wenn du hier auftauchst. Ihr versteht euch ziemlich gut, oder?« Sie zwinkert und gibt mir einen kleinen, hellblauen Umschlag. Mit roten Wangen lache ich kurz auf und presse dann hervor: »Kann man so sagen.« Sie lächelt wissend, obwohl sie eigentlich rein gar nichts weiß.

Ich nehme den Umschlag an mich, bezahle meinen Kaffee und gehe wieder. Einige Schritte vom Café entfernt bleibe ich am Straßenrand stehen und versuche, den Brief mit einer Hand zu öffnen, da gerade nichts in Sicht ist, wo ich meinen Becher abstellen könnte. Da ich nur mäßig erfolgreich bin, gehe ich resigniert in die Hocke und stelle meinen Kaffee neben mich auf den Boden.

Ungeduldig öffne ich den Umschlag, der mich von außen betrachtet ein wenig an das Kuvert einer dieser Mini-Geburtstagskarten erinnert, die man auf verpackte Geschenke klebt.

Im Umschlag befindet sich ein gefalteter rosa Zettel. Ich entfalte ihn und sehe eine handschriftliche Notiz.

»Hallo Romy.

Wenn du diesen Brief in der Hand hast, warst du im Café auf der Suche nach mir. Ich weiß, ich hätte dir auch einfach eine Nachricht auf dem Handy schicken können, aber irgendwie wollte ich schon immer mal sowas kitschiges ausprobieren. Warum auch immer du auf der Suche nach mir bist, unten steht meine Adresse für den Fall, dass du es mit mir persönlich besprechen willst (wovon ich ausgehe, wenn du dich dazu entschieden hast, ins Café zu kommen anstatt mir zu schreiben). Wenn dir das zu blöd ist, kannst du mich natürlich auch einfach anrufen. Oder doch eine Nachricht schicken. Das Briefpapier wird langsam knapp, ich hätte mich kurzer fassen sollen.

Okay, bis gleich (vielleicht). Silas.«

Ich muss bei dem Anblick seiner geschwungenen, immer kleiner werdenden Schrift lächeln. Die Adresse die unten steht befindet sich in einer Gegend, in der ich nicht besonders oft bin. Es ist so ziemlich am anderen Ende der Stadt und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eher schwierig zu erreichen. Allerdings ist es ziemlich schön dort. Und teuer. Entweder Silas hat reiche Eltern, oder er verdient mehr Geld als ich erwartet habe.

Unschlüssig stehe ich wieder auf und stecke den Brief in meine Jackentasche. Ich nehme einen tiefen Schluck meines Kaffees und schmecke, dass weniger Karamell drinnen ist als sonst. Vielleicht bilde ich mir das aber auch bloß ein.

Soll ich zu ihm fahren? Oder soll ich ihn einfach anrufen?

Ich bin komplett überfordert und weiß nicht, was davon die richtige Option ist. Ich entscheide mich schließlich dazu, erstmal nach Hause zu laufen und mir auf dem Weg dorthin zu überlegen, was ich tun soll. 

HerzschaumWhere stories live. Discover now