Z W E I U N D Z W A N Z I G

361 39 2
                                    

Normalerweise wäre es wieder an der Zeit, etwas auf meinen Social-Media-Kanälen zu posten. Es ist nicht einmal so, dass ich kein Videomaterial oder keine Entwürfe parat habe, doch trotzdem kann ich mich einfach nicht dazu aufraffen, etwas zu tun.

Ich liege auf meiner Couch, einen mittlerweile kalten Tee neben mir und starre apathisch an die Decke. Es fühlt sich an, als wäre mein Kopf komplett bis oben hin voll mit Gefühlen und Gedanken, doch gleichzeitig unglaublich leer. Wenn ich mich bewege, kommt es mir vor, als müsste ich mich erst durch eine dickflüssige Masse kämpfen, weshalb meine Bewegungen bei allem was ich tue sehr sehr langsam sind. Selbst die kleinsten Aufgaben wie Duschen und mir etwas zu Essen machen fordern mich enorm.

Ich habe das Gefühl, dass ich an einem Punkt angelangt bin, wo mir alles einfach zu viel geworden ist. Der Stress mit Susann, mein schlechtes Gewissen mit David und dann noch die unerwiderten Gefühle, die ich für Silas hatte und partout nicht bekämpfen konnte.

Nur dass sie anscheinend doch nicht unerwidert waren.

An der Sache selbst ändert das nichts. Außer, dass wir uns von jetzt an wohl überhaupt nicht mehr sehen werden.

Ich denke daran, dass das doch eigentlich genau das ist, was ich wollte: Silas nie wieder sehen, um mich selbst nicht zu quälen. Nur war das, bevor ich von seinen Gefühlen wusste. Ich wünschte, ich hätte es nie erfahren. Ich spüre einen leisen Stich der Wut in meiner Bauchgegend. Warum um alles in der Welt musste er es mir unbedingt sagen?! Warum konnte er nicht einfach seine Klappe halten?!

Ich atme tief ein und lasse all die angestaute Luft wieder raus. Er ist auch nur ein Mensch. Hinzu kommt, dass er es wirklich nicht böse gemeint hat. Leider ändert das an meiner misslichen Lage unter dem Strich rein gar nichts.

Ich bin mir sicher, dass es so oder so nicht einfach gewesen wäre, ihn aus meinem Leben zu streichen. Trotzdem ist es jetzt nochmal eine ganze Spur bitterer. Ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken, was hätte sein können.

Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und stöhne gedämpft. Was für ein Bockmist das alles doch ist.

Erschöpft schließe ich die Augen und versuche, nur für eine Minute an nichts von dem ganzen Zeug, das mir sonst nonstop im Kopf herumspukt, zu denken. Ich fühle, wie ein schweres Gewicht auf meiner Brust leichter und leichter wird, bis ich langsam wegdrifte.

...

Als ich wieder aufwache, ist es draußen bereits dunkel. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle erleichtert fest, dass es erst sechs Uhr ist. Gott sei Dank ist es nicht später, denn dann wäre mein Schlafrythmus komplett im Eimer. Gut ist es natürlich trotzdem nicht gerade, dass ich den halben Tag verschlafen habe. Aber ich schätze, mein Körper hat es wohl gebraucht.

Mit schmerzenden Gliedern erhebe ich mich, strecke mich ein wenig und mache dann eine kleine Runde durchs Wohnzimmer, mein Handy noch immer in der Hand. Ich gehe gerade meine Benachrichtigungen durch, als ich zu allem Überfluss auch noch Hass-Kommentare zu einigen meiner Posts finde. Ich bleibe stehen und lasse mich auf einen gepolsterten Hocker in meiner Nähe fallen.

»Witzig, dass jemand wie du Leuten im Internet zeigen will, wie man sich schminkt. Hast es wohl nötig, so unscheinbar wie du aussiehst.«

Ich bin nicht erst seit gestern Bloggerin und habe schon die ein oder andere hässliche Nachricht oder fiese Kommentare bekommen. Obwohl ich einigermaßen gelernt habe, damit umzugehen, treffen mich solche Worte immer wieder aufs neue. Dieser spezielle Kommentar gehört noch zu den harmloseren, die ich bekommen habe, obwohl er schon schlimm genug ist. Doch der nächste ist nochmal eine Spur heftiger.

»Keine Ahnung, wie du es machst, aber mit Schminke siehst du sogar noch hässlicher als vorher aus. Verpiss dich doch einfach, niemand will deine Scheiß-Fresse sehen.«

Ich schlucke hart. Leider ist es so, dass man sich im Netz noch angreifbarer macht, wenn man sich selbst zeigt. All das war mir klar, bevor ich mich dazu entschieden habe, Bloggerin zu werden. Auch wenn ich weiß, dass Menschen die sowas posten, irgendwo tief unglücklich sind und ein Ventil suchen, um sich besser zu fühlen, ist es schwer, sowas nicht zu nah an sich heranzulassen.

Ich will mein Handy schon weglegen, doch da erkenne ich, dass beide Kommentare vom gleichen Account kommen. Der Nutzername sagt nicht besonders viel aus, denn es scheint sich nur um eine willkürliche Ansammlung von Buchstaben und Zahlen zu handeln. Der Account ist auch privat und ohne Profilbild. Diese Person gibt also rein gar nichts über sich preis, macht aber andere fertig. In diesem speziellen Fall: mich. Ich hoffe inständig, dass ich die einzige bin, die den Hass dieser Person abbekommen hat, bezweifle das jedoch stark.

Ich entdecke noch sehr viel mehr Kommentare von dem Account und melde ihn umgehend. Als ich dabei bin, die Kommentare zu löschen, sehe ich, dass einige User mich verteidigt und eindeutig gegen den Hass gestellt haben. Das erwärmt mein Herz, kann jedoch gegen diese gähnende Leere, die nach der ganzen Aufregung in mir herrscht, nicht viel ausrichten.

Ich lasse mich erneut auf mein Sofa fallen und schließe die Augen. Ein Teil von mir weiß ganz genau, dass ich aufpassen muss, mich nicht zu sehr von diesem lähmenden Gefühl der Leere und Überforderung überwältigen zu lassen. Doch ich habe unglaublich große Schwierigkeiten, mich dagegen zu lehnen.

Ruf deine Mutter an. Den Gedanken hatte ich heute nicht nur ein Mal. Ich weiß genau, dass sie mir helfen könnte, doch mir ist ebenfalls bewusst, dass sie sich dann riesige Sorgen macht – womit ich wiederum nur schwer umgehen kann.

Ich fühle mich wieder so müde, obwohl ich doch gerade von einem Mittagsschlaf aufgewacht bin. Ich schaue auf die Uhr. Naja, ›Mittag‹ stimmt so nicht ganz.

Ich spiele noch eine Weile mit dem Gedanken, doch meine Mutter anzurufen, verwerfe ihn aber jedes Mal aufs Neue. Schätze, ich muss allein klarkommen.

Ich wünschte, ich könnte in eine Zeitmaschine steigen und sechs Wochen zurückgehen. So würde ich dafür sorgen, dass ich nie zu diesem grauenhaften Date mit Tim gehen und somit auch nicht Silas begegnen würde. Mein Leben wäre so viel einfacher...

Gut, an der Sache mit Susann, David und meinem kaputten Computer würde das auch nichts ändern, aber so könnte ich schon mal viel besser mit allem umgehen. Es ist einfach so, dass mich diese Silas-Geschichte am meisten belastet.

Ich stoße einen so tiefen Seufzer aus, dass ihn vermutlich alle meine Nachbarn hören können. Leider gibt es keine Zeitmaschinen. 

HerzschaumWhere stories live. Discover now