20.2: Si... ... weg.

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Etwas vorsichtiger trat Chander ein. Da es draußen keine offensichtlichen Fenster gegeben hatte, ließ ihn das Licht, das ihn erfasste, sobald er die Schwelle übertrat, stocken. Eine Quelle der Strahlen schien es nicht zu geben, sie entstanden aus dem Nichts und setzten die sieben Statuen in der Mitte in Szene. Sie alle trugen jeweils eine weite Robe mit hochgeschlagener Kapuze und alle stellten denselben Ausdruck zur Schau: entspannte Züge, geschlossene Augen und die Andeutung eines Lächelns. Lediglich die verblassten Überreste von Farbe und die Details der perfekten Gesichter machten sie unterscheidbar.

Chander verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. Seine Knie bettelten darum, unter ihm nachgeben zu dürfen. Irgendetwas in ihm wollte die Augen schließen und sich zusammenrollen. „Ich habe nie verstanden, warum Menschen tausende von Kilometer reisen, nur um sich in einem muffigen, baufälligen Gebäude zerfallende Kunst anzusehen, die man genauso gut auf Bildern bestaunen kann." Noch immer klang seine Stimme rau und unstet, schwächte seinen Spott ab.

„Versetzt es Sie nicht in Hochstimmung, hier zu sein?", wollte Cyrus wissen. „Hier, wo für uns alles begann?" Mit seiner Mimik passte er gut in den Kreis der Reinenstatuen, obwohl die Müdigkeit seine Worte und Bewegungen träge machte.

„Für mich hat hier nichts begonnen", hielt Chander dagegen. „Dieser Ort hat überhaupt nichts Besonderes an sich. Normalerweise muss man hier Eintritt bezahlen und wer weiß, für was man hier noch Tauben abgeknöpft bekommt. Alles nur Geldmache."

Cyrus öffnete den Mund, doch Anatol kam ihm zuvor. „Chander hat recht. Spürst du es nicht? Wir sind nah, aber das hier ist nicht die Quelle." Er schritt die Wand ab, ließ seine Hand darüber gleiten und hielt nach der zweiten Runde direkt gegenüber dem Eingang inne. „Hier", murmelte Anatol und bevor ihn Chander zurechtweisen konnte, zerfiel ein Stück der Wand zu Staub. Der goldene Reine schnappte nach Luft, hielt sich die Seite und humpelte durch das Loch, das entstanden war.

Die beiden Zurückgelassenen wechselten einen Blick und folgten ihm, betraten eine Kammer, die es bei der Größe des Gesamtgebäudes gar nicht geben durfte.

Chander stockte der Atem und das lag nicht nur an der stickigen Luft und dem alles verschlingenden Geruch von Bitterkeit. Staubkörnchen tanzten schwerfällig im Licht, das durch die Öffnung in der Decke fiel, bedeckten den Boden, Spinnennetze und die sieben Statuen in der Mitte.

Er trat näher, bis er in eines der von Schmerz verzogenen Gesichter schauen konnte. Ließ den Blick schweifen, über Körper, die auf Knien zu flehen schienen oder Trost in einer Umarmung eines anderen suchten, halb abgewandt zur Flucht bereit waren oder mit geweiteten Augen dastanden. Sie waren nur lose in Kreisformation angeordnet und vor allem zwei Steinhäufchen ließen eine Lücke. Chander meinte, sich an ein paar Geschichtstexte oder Dokumentationen zu erinnern, die nicht ausschlossen, dass es einmal neun Reine gegeben hatte, entsprechend der neun Edelmetalle.

Aus jedem Augenpaar tröpfelte Flüssigkeit, wie aus einem kaputten Wasserhahn, hinterließ Spuren auf den Gesichtern, den unterschiedlich geschmückten Roben und schließlich dem Boden. Es waren silbrige Flüssigkeiten, er meinte noch, das gräulichere Platin und stahlblaue Osmium ausmachen zu können, aber Gold suchte er vergebens. Hatte Chander die Statuen im Hauptraum schon für detailreich gehalten, waren diese Kunstwerke vor ihm lebensecht. „Welcher kranke Künstler denkt sich so was denn aus ..." Er hatte leicht klingen wollen, aber im Kratzen seiner Stimme war sein Unwohlsein herauszuhören. „Ist eigentlich alles, was mit den Reinen zu tun hat, so abgefuckt?"

Anatols Gesicht war unlesbar, als er sich vor einen der beiden Steinhaufen stellte und Cyrus mit einer Handbewegung anwies, die Position des anderen einzunehmen. In Moridis Zügen konnte man eher Emotionen erkennen: Unsicherheit und Angst. Dann nickte ihm Anatol zu und scheinbar war das das Zeichen.

Der Tanz von Sonne und MondWhere stories live. Discover now