16.2: Magieschwankungen.

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Chander konnte nicht sagen, wie lange er schon da herumlag. Oder wo ‚da' so genau war. Bei seinem Glück war er tot. Nein, dann würden seine Augen und Ohren und sein Herz nicht mehr so verdammt schmerzen. Hoffentlich. Sein Sehorgan tränte unablässig und wann immer er versuchte, es zu gebrauchen, brachte ihn das Brennen fast dazu, sich zu übergeben. Er hatte nach dem Mädchen gerufen, aber weder etwas von ihr, noch von sich selbst gehört. Was ihn zu seiner Tod-Theorie zurückgebracht hatte. Oder zu der Schlussfolgerung, dass ihn die Bombe zwar nicht ins Jenseits geschickt hatte, er dafür jetzt aber blind und taub war. Irgendwann war er vom Rufen nach der Kleinen zum Rufen nach Anatol übergegangen. Aber der befand sich wahrscheinlich schon irgendwo in Sicherheit.

Die Tränen waren alleine die Schuld der Verblitzung, genauso wie das Zittern in seinen Gliedern. Er lachte sich selbst aus, fühlte sich dank dieser Lügen in seinem Geist noch erbärmlicher.

Wenn der Sensenmann mehr Glück gehabt hatte als Chander und Chander so viel Glück hatte, wie normalerweise, musste er sich um die tot oder nicht tot Sache nicht mehr lange Gedanken machen. Dann musste er sich um gar nichts mehr Gedanken machen.

Eine Berührung an seiner unverletzten Schulter ließ ihn zusammenfahren und abwehrend die Hände ausstrecken. Er blinzelte, sah aber nur weiße Schlieren, bevor er die Augen wieder schließen musste und sie mit seinen Händen abschirmte.

Jemand umfasste seine rechte Hand und führte sie zu warmer Haut. Einer Wange, umrahmt von knöchernen Bergen und durchfurcht von Flussbettnarben.

Anatol, flüsterte er in für ihn unbestimmter Lautstärke. Unter seinen Fingern konnte er das Lächeln und Nicken spüren. Eine Hand an seiner eigenen Wange ließ ihn erneut zucken. Sanft streichelte sie darüber und wischte die Tränen weg.

Bitterer Pelz legte sich auf seine Zunge.
Dann hörte er das Zwitschern von Vögeln, die Unruhe von Schutt, sah den blauen Himmel und einen gequälten Reinen.

Anatol sackte neben ihm zu Boden und rollte sich zu einem zitternden Ball zusammen.

„Es tut mir leid." Chander rieb sich die restliche Flüssigkeit vom Gesicht und das Blut von den Ohren. „Dass du mir immer helfen musst, meine ich. Dank dir komme ich aber auch in die seltsamsten Situationen." Er setzte sich auf, hielt inne und fügte an: „Was ich dir nicht vorwerfe." Natürlich tat auch seine Schulter nicht mehr weh.

„Sehr gnädig", wisperte er. „Schon gut."

„Und ich verspreche dir, dass ich das nächste Mal auf deine komischen Gefühle höre. Manchmal zumindest."

„Meine komischen Gefühle", echote Anatol und drückte sein Gesicht in den Dreck, um sein Kichern zu mindern. Mit wenig Erfolg. „Aua. Mir tut alles weh." Mit beiden Händen stützte er sich auf und schaffte es in eine aufrechte Position. Aus halbgeschlossenen Augen blinzelte er Chander an. Die Augenringe waren dunkler geworden, ließen ihn nur mehr wie ein Skelett wirken.

Chanders Lippen pressten sich von selbst zusammen. „Du siehst scheiße aus", stellte er schließlich fest, „aber wir müssen weiter. Ich habe den Sensenmann gesehen."

So, wie der Reine die Augenbrauen zusammenzog und seufzte, wirkte er fast verletzt.

„Ich meinte ‚müde', okay?", ruderte Chander zurück.

Jetzt hoben sich Anatols Brauen. „Ist doch egal, wie du das meintest. Seit wann bist du so ... man könnte es fast ‚rücksichtsvoll' nennen?" Auf den Beinen hakte er sich bei Chander unter, nicht gewillt, alleine einen Weg aus dem Bombenkrater zu finden.

Er verdrehte die Augen, ließ die Frage unbeantwortet und konzentrierte sich darauf, von dem Reinen nicht den Abhang hinunter gerissen zu werden. „Anatol ...", murmelte er. „Ich will ... Du kannst ehrlich zu mir sein. Ich meine ..." Steinchen rutschten unter seinem linken Fuß weg, aber seine Zehenspitzen fanden Halt auf einem Vorsprung, bevor er ausgleiten konnte. „Ich werde nicht weniger von dir halten, weil es dir nicht gut geht und du das auch zeigst. Und es geht dir offensichtlich nicht gut."

Der Tanz von Sonne und MondWhere stories live. Discover now