11.2: Zum Glück hast du mich.

227 35 73
                                    

„Du bist uns etwas zu schlau und neugierig geraten, das sollte ich für zukünftige Exemplare vermerken. Du hast recht, mein Junge. Dein Katalysator war niemals Reinheit oder Unschuld oder Tugendhaftigkeit oder wie du es nennen willst." Er ließ die Kunstpause wirken. „Es ist Schmerz. Tiefer, alles verzehrender, in den Wahnsinn treibender, seelischer Schmerz. Deswegen haben wir dich so erzogen, wie wir dich schon seit Jahrhunderten erziehen. Zuckerbrot und Peitsche, willkürlich eingesetzt. Liebe und Entzug. Konfrontation und Unwissenheit. Wir impften dir eine rosarote Vorstellung der Welt ein, mit einzelnen blutroten Pfützen. Sodass dich die Wahrheiten nur quälen, aber nicht zerstören würden, sodass du in einem Krieg erblühen könntest. Normalerweise folgen wir einem genauen Plan. Aber ... Chander hat sehr gute Arbeit geleistet und dir ein paar schöne Einblicke gegeben. Anfangs war ich skeptisch, besorgt sogar, aber nein, wirklich, es war grandios. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Es lief so gut, dass ich obendrein die Arbeit der netten Engelchen etwas sabotiert habe. Tut mir leid, Janyra. Dennoch würden wir jetzt gerne wieder die Zügel in die Hand nehmen und dich gezielter auf deine Aufgabe vorbereiten, Anatol."

Der Reine richtete sich gerader auf. „Ich komme nur unter ein paar Bedingungen wieder nach Hause."

„Bedingungen", hauchte Brandt in einem Ton zwischen Belustigung und ‚stolzem Vater'.

Währenddessen stellte Chander fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Dank der goldenen Pupillen wusste er, warum. Ihm war es nur erlaubt, den Reinen niederzustarren und ihm mit seinen Augen zu vermitteln, dass er ihn töten würde, würde er ihn wieder loslassen.

Flüchtig warf ihm Anatol einen entschuldigenden Blick zu, bevor er ansetzte: „Ich will, dass Rätin Janyra zur Rechenschaft gezogen wird. Sie soll Chanders Strafe absitzen."

Janyra lachte auf. „Wie bitte?" Sie hämmerte gegen ihren goldenen Käfig. „Das ist lächerlich, ich –"

Indem Brandt sie mit seiner Luftmagie an den Boden nagelte, brachte er sie zum Schweigen. „Tut mir leid, Reiner schlägt Rätin, meine Liebe."

„Ich will" setzte Anatol erneut an, „dass Chanders Akte gelöscht wird. Und die seines Teams. Sie sollen noch einmal ganz von vorne anfangen dürfen."

Das entlockte Yuri ein Schnauben. „Chander hält es keinen Monat aus, ohne etwas anzustellen."

„Betrachte es als erledigt, mein Junge. Reiner schlägt auch Polizei."

Kurz sah Anatol nach oben, zu Chander und nickte dann Brandt zu, bevor er sich von allen abwandte. Erst einmal in des Doktors Manier eine Kunstpause einlegte und durchatmete. „Den Rest werde ich mit dir besprechen, wenn wir wieder zu Hause sind, Betreuer." Ein Raumportal öffnete sich. Dieses Mal war es kein Tunnel, sondern zeigte auf der anderen Seite die kuppelartigen Wohnanlagen des Reinenanwesens.

Als er nach vorne taumelte, merkte Chander, dass er sich wieder bewegen konnte. „Anatol ..." Er wusste nicht, ob er gerade wütend auf ihn war oder ob er ihm dankbar sein sollte oder sonst etwas. Es war zu viel auf einmal und genauso klang er als er sagte: „Geh nicht. Bitte."

Doch der Reine schritt nur weiter auf das Portal zu.

„Ignorierst du mich jetzt etwa, du dreckiger –" Chander riss ihn herum. Das tränenüberströmte Gesicht ließ ihn stocken.

„Ich kann nicht bleiben. Aber glaub mir, wenn ich die Wahl hätte, würde ich." Er zog ihn dicht zu sich heran, bis sich ihre Stirnen berührten und Chander die Schokolade riechen konnte, die der Reine vor dem Aussteigen verputzt hatte. „Pass auf dich auf, Chander. Und sei Wiesel nicht allzu böse. Sie hat das bestimmt nicht gewollt." Er ließ ihn los, hüpfte durch das Tor und war verschwunden. Einfach so.

Der Tanz von Sonne und MondWhere stories live. Discover now