Sailhalb Blatt Nr. 3

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Etwas verdutzt blinzelte ich sie an. Yessis Brief?  Wie zum Beweis zog Morem ein zerknittertes Stück Papier aus dem Inneren ihres Mantels und hielt es mir hin. Er sah mitgenommen aus. Alt beinahe. Der Himmel hinter ihr verdunkelte sich in böser Vorahnung. Wie ein Kranz aus Schatten um ihren Kopf.

Meine Hand zögerte. Es widerstrebte mir, seine persönliche Korrespondenz zu lesen. Aber dann wiederum hatte ich sie bereits selbst einmal gefälscht und auch wieder geöffnet. Unbewusst flatterte mein Blick zu Lorik, der mich unter gesenkten buschigen Augenbrauen ebenfalls anstarrte.
„Der Brief muss verloren gegangen sein...", murmelte ich mehr zu mir selbst, als ich ihn vorsichtig auseinanderfaltete, meine dreckigen Finger klamm. 

„Sicherlich. Mein Nachbar hatte die überbringende Krähe in unendlicher Dummheit erschlagen, als sie in seinem Gemüsebeet saß", neigte Morem zustimmend den Kopf, "Ich vermute, er ist vier oder fünf Wochen alt."

Also noch vor Moiras Tod. Meine Finger zitterten. 

Lorik schnaubte abfällig. „Und du hast ihn nicht zu deinen alten Göttern geschickt?" Er hatte die Decke um den Körper enger gezogen, aber zitterte schlimmer als Elyrische Kinder bei einem Gewitter. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, seinen schärfsten Tonfall auszupacken.

Ich verpasste die Antwort, während ich widerwillig über die Zeilen flog. Eigentlich hatte ich das Datum bereits gesehen, doch ein einziges Wort stach aus dem Text heraus wie ein Dorn im Federkissen.
Nevanam.

Mein Blut wurde dick. Zu schwer, um mit dem Fluss der Zeit um mich herum mitzuhalten. Die Wirklichkeit schränkte sich allein auf die krummen Buchstaben ein, die sich zu einem grausigen Inhalt zusammensetzten. Es waren nicht viele Zeilen. Kurz und umso einprägsamer.
„... Ich habe ein Problem... Die Hebamme hat mir alles erzählt... der Tausch... im Moor treffen... Ich kann nicht König sein. Sie würde mich niemals lieben."

„Die Worte ergeben keinen Sinn", wiederholte Morem ihre Bedenken und riss mich aus meinen Gedanken, „Ich habe ihn zufällig einige Wochen später getroffen, bevor wir nach Eslaryn geritten sind und er hat nichts von einem Tausch gesagt. Wo ist er jetzt überhaupt?"

Wie betäubt gab ich ihr das Blatt zurück. Der Tausch. Moira hatte in meinem Traum etwas Ähnliches gesagt.
„Wir wissen nicht genau, wohin er geritten ist." Selbst meine Zunge fühlte sich über die Worte pelzig an. In meinem Kopf verknüpften sich Schnüre und Erinnerungen miteinander zu einem schwer fassbaren Geflecht.

„Wenn er einen weiteren Auftrag hat, soll er auf meine Antworten reagieren und mich nicht bis ganz hierher zurückreiten lassen", sie stopfte den Brief zurück in ihren Mantel, „Soll ich mich jetzt um diese Hebamme kümmern, oder was?"

Ich schluckte gegen eine sehr trockene Kehle an. 
„Diese Hebamme...", es kostete mich einiges an Kraft, die Angst aus meiner Stimme zu halten, „...heißt Camil Roussex. Und ist bereits tot."

Morem runzelte die Stirn. Die erste Reaktion, die verriet, was hinter diesen dunklen Augen vor sich ging.
Wie Schatten blockierten sie das Licht des klaren Winterhimmels und bohrten sich tief in meine Haut, bis ich glaubte, sie in meinem Kopf zu spüren. „Dann hat er dir von dem Auftrag erzählt?"

Yessi? Nein. Aber er hätte Morem geschickt, um ein Geheimnis zu wahren, von dem ich nichts wusste. Und als sie nicht antwortete, hatte er sich selbst um die Nevanam gekümmert. Aber warum?

Lorik sandte Morem einen warnenden Blick. „Wir sprechen nicht über-...", ein heftiges Husten schüttelte ihn erneut und riss den Satz in der Mitte ab, „...Chron-herbe...", brachte er gerade noch so heraus, doch es hätte genauso gut jedes andere Wort sein können.

Mit einem dumpfen Geräusch kippte er vom Stuhl. Der Anfall schüttelte ihn schlimmer, als ich es jemals gesehen hatte, schlimmer als es sein sollte. Er bekam keine Luft-...
Sofort kniete ich an seiner Seite, um ihn von dem eisigen Boden zu heben, Morem an seiner anderen. Gemeinsam hievten wir ihn zurück in eine aufrechte Position, als mir ein kleiner Schrei entfuhr.

Mein Magen krampfte sich im Griff der schwarzen Kälte zusammen. Zerdrückt wie ein Schwamm, machte er mich für einen kurzen Moment bewegungsunfähig.

Blaue Adern. Sie zeichneten sich überall um die wässrigen Augen des alten Manns ab. Pulsierend. Wachsend. Rankten sich wie ein schreckliches Tattoo immer weiter durch seine Falten. Lorik hustete noch einmal, doch die Kraft floss so schnell aus ihm heraus, dass er kaum noch nach Luft schnappen konnte. Blut sammelte sich in seinem Mundwinkel.

„Lichi!" Ich wusste nicht, warum ich zuerst nach meiner einzigen Freundin rief. Wir brauchten das Gegengift! Sofort! Fahrig versuchte ich, ihn umzudrehen. Seine Lunge zu entlasten. Lichi konnte an den Schlüssel zu meinem Arzneischrank kommen!

Schritte eilten über den Kiesboden und blieben mit ein wenig Abstand zu uns stehen. Es war nicht Lichi.
Eine ältere Frau mit Weidekorb starrte uns an, als sähe sie den Tod selbst seine Schwingen über dem Garten ausbreiten. Wind peitschte auf und griff nach ihren Haaren. 

Meine Stimme wurde rau von Tränen. „Bitte! Bitte holt Hilfe!" Neben mir löste sich Morem von dem alten Mann und rappelte sich auf. Während die andere Frau Schock erstarrte, rannte die Attentäterin los. Ihre graue Kleidung verschwamm mit dem Rest der Welt. 

Ich war winzig in dem Garten. Zu klein für die näherrollende Katastrophe. 

Er stirbt!", brüllte ich die Wäscherin an, gerade als sich zwei Soldaten aus Lionas persönlicher Wache hinter ihr sammelten. Besorgt reckten sie ihr Hälse, um besser erkennen zu können, was hier draußen so einen Lärm veranstaltete. 

Ich lehnte mich instinktiv über Lorik, drückte seinen kälter werdenden Körper an meinen. Sie mussten Hilfe holen. Schnell. 

Es gab noch eine Chance. Das Gift brauchte seine Zeit. 
Aber sie tuschelten, berieten sich, doch schließlich packten sie nur die Wäscherin und zogen sie mit sich fort. 

Zurück in den aufkommenden Sturm, der an den Ästen der Trauerweiden zerrte. 

Lorik hustete noch einmal und sein warmes Blut lief mir über die Hand. Farbe wo sonst Farbe fehlte. 
„Alles wird gut...", murmelte ich an seine Stirn, während meine Tränen sein schütteres Haar tränkten, „Alles wird gut." Meine Hände bebten in einer Mischung aus Angst und Verzweiflung. Moiras Erinnerung begleitete mich wie ein Geist. 

Und ich blieb alleine. Bis zum Ende.

Lorik war der letzte Zeuge gewesen. Die letzte Erinnerung an ein furchtbares Geheimnis, das sich mir immer wieder entzog. 

8:10 in Deutschland: Vorletztes Kapitel everybody!
Es tut mir leid?

Doppelupdate?

Die letzte NevanamWhere stories live. Discover now