Sailhalb Blatt Nr. 2

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          Die Erleuchtung kam am nächsten Tag. Oder zumindest hatte ich das gehofft.
Im ganzen Haus gab es nur einen Mann, dem ich zutraute, alt genug zu sein, dass er einen früheren Besuch einer Nevanam mitbekommen habe. Und glücklicherweise war er in meiner Behandlung. Auch, wenn er das nicht wollte.

Zu Abwechslung der Szenerie saß Lorik Hellsbar nicht unter seiner Bettdecke, sondern direkt vor dem Fenster und starrte nach draußen. Ich deutete das als Zeichen, dass es ihm langsam besser gehen musste, oder er endlich eingesehen hatte, dass eine weiße Decke ihn nicht vor mir schützen konnte.

„Ich habe eine Frage!", platzte es aus mir heraus, kaum da ich die Zimmertür geschlossen hatte.

Lorik drehte nicht einmal den Kopf.
„Ich habe viele. Zum Beispiel: Was ist aus ‚Wie geht es dir Lorik? Sind deine Beschwerden heute leichter, ja?' geworden?"

Mit einem Plumpsen ließ ich meine Tasche auf den Nachtschrank fallen. Ich hatte wieder die halbe Nacht nicht geschlafen, weil mich mein Traum umtrieb, wie einen Geist im Sakella-Wald. Er war jede Nacht gleich. 50 Sekunden lang sah ich den Mörder im Garten schleichen, bevor er fort war. In Sekunde 42 passierte er sogar direkt unter uns durch und hob niemals den Kopf.
Meine Hände schwitzten und meine Arme waren weich wie Gras. Wenn ich nicht bald eine Antwort bekäme, war der nächste Anfall sicher. Und ich wollte wirklich keinen Weiteren.

„Ich bin nicht die erste Nevanam, der du begegnet bist."

In diesem Moment drehte er sich doch zu mir um. „Das ist weder semantisch noch sonst irgendwie eine Frage", gab er trocken zurück.

Die Heerschar an Glühwürmchen in meinem Bauch verdoppelte sich. Warum musste er ausgerechnet jetzt kompliziert sein?
„Entschuldigung, dass die Details nicht stimmen! Warst du damals hier, als die letzte Nevanam dieses Haus besuchte?"

Der Alte schnaubte. „Was ist bloß los mit dir, heute? Keine Geduld und kein Respekt vorm Al-..."

„Ja oder Nein?", fuhr ich ihm dazwischen. Im hintersten Winkel meines Verstandes tat er mir sogar leid.

„Ja!", schnappte er zurück, „Natürlich war ich da! Wo hätte ich sonst gewesen sein sollen, wenn unsere Hausherrin in den Wehen liegt?"

Meine Knie waren nicht mehr vertrauenswürdig. Sie fühlten sich deutlich beweglicher an, als sich das für ein Gelenk gehörte, weswegen ich mich wankend auf einen Stuhl rettete und einmal tief Luft holte. Die nächste Frage war beinahe noch entscheidender.
„Erinnerst du dich auch an ihren Namen?"

Echte Sorge huschte durch die faltigen Züge des Mannes, als er meine Verfassung beurteilte. „Sicherlich", erwiderte er, ein wenig beleidigt durch meine Frage, „Mara."

„Moira?"

„Oder das."

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Dann noch einen. Ein punktuelles Erdbeben erfasste meine Hände, die ich verzweifelt in meinen Rockfalten zu verstecken versuchte. Moira war hier gewesen. Sie hatte eine konkrete Verbindung an diesen Ort.

Ich spürte Loriks Musterung, doch ich fand für den Moment nicht die Konzentration, um seinem Blick zu begegnen. Jetzt, wo ich die Information hatte, war ich mir nicht ganz sicher, wie ich weitermachen sollte.

Der Alte half mir auf die Sprünge. „Warum willst du das alles wissen? Ist sie eine Freundin von dir?"

„Sie war meine Lehrerin", erwiderte ich gedankenverloren und eine Welle der Trauer und Schuld ließ mich frösteln. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Ich hatte nicht gewusst, dass Moira hier gewesen war, was die Problematik aufwarf, wie viel mir noch verborgen geblieben war.

Die letzte NevanamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt