57. Kapitel

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Als ich abends erschöpft in meinem Bett lag, schien sich immer noch alles zu drehen und zu schwanken.
Shadow und ich hatten den Nachmittag voll und ganz ausgekostet und jede Attraktion, an der wir vorbeigekommen waren, ausprobiert.
Besonders das Riesenrad hatte es mir angetan. Auch wenn selbst ich in der unglaublichen Höhe ein mulmiges Gefühl bekam - vor allem, da die Gondeln offen waren und nur ein unsichtbarer Schutz die Besucher vor dem Hinausfallen beschützte.
Es hatte mich gewundert, als Shadow mir erklärt hatte, dass der Eintritt für Schüler der Akademie kostenlos war, doch erst später hatte ich das Ausmaß dieser Ungerechtigkeit wirklich erfassen können.
Denn wenn wirklich, wie Shadow sagte, hauptsächlich die Elite aus Salem an der Akademie angenommen wurde, bot es den ohnehin bevorzugten Bürgern Salems noch ein weiteres Privileg.
Während ich mich im Bett hin und her wälzte, wanderten meine Gedanken erst zu der Herrscherin Salems, dann zu den Nymphen und letzten Endes wieder zu der merkwürdigen Begegnung mit der Fremden.
Wer zum Teufel war diese Frau?!
Und was hatte sie gewollt?
Sie konnte wohl kaum gekommen sein, bloß, um geheimnisvolle Bemerkungen zu machen und mir zu dem Sieg gegen die Nymphen zu gratulieren.
Das wirst du noch erfahren.
Wenn ich nur wüsste, was sie damit gemeint hatte...!
Frustriert drehte ich mich auf die andere Seite.
Am liebsten hätte ich Professor Morgan darauf angesprochen. Doch ich war noch nicht bereit, wieder mit ihr zu reden.
Ich war schließlich immer noch dabei, das, was sie mir anvertraut hatte, zu verdauen...
"Al?", drang Eves flüsternde Stimme zu mir.
"Tut mir leid", flüsterte ich zurück. "Ich bin ein bisschen aufgewühlt"
"Wegen der Sache mit den Nymphen?", fragte sie leise.
"Ja", murmelte ich, weil ich ihr die anderen Gründe meiner Beunruhigung nicht erzählen konnte.
"Geht mir genauso", antwortete sie. "Ich glaube, das wird uns alle nicht so schnell loslassen"
"Hmm", machte ich zustimmend.
"Gute Nacht, Al. Versuch ein bisschen zu schlafen"
"Gute Nacht", erwiderte ich.
Als ich etwas später tatsächlich einschlief, träumte ich von Nymphen, die über Riesenräder kletterten und der unheimlichen Frau, die von den brennenden Vögeln vom Schießstand umgeben war und immer wieder unverständliche Prophezeiungen aussprach.
Am nächsten Tag zerbrach ich mir weiter den Kopf über die Frau und über Professor Morgan.
Doch da in den folgenden Tagen einige unangekündigte Tests stattfanden, wurde meine Aufmerksamkeit schnell von Alltäglicherem eingenommen.
Zwar suchte Professor Morgan mehrmals das Gespräch zu mir, doch ich ignorierte sie die nächsten Wochen über.
Ich hatte wirklich kein Interesse daran, so zu tun, als würde ich das, was sie getan hatte, verstehen oder hinnehmen - auch wenn es vielleicht nicht ihre Absicht gewesen war.
Möglicherweise war ich auch enttäuscht, dass ich gedacht hatte, ich würde sie langsam kennen und dann so etwas hatte erfahren müssen...!
Aber wer konnte mir das schon verübeln?
Shadow redete mir zwar mehrmals ins Gewissen, dass ich ihr noch einmal eine Chance geben sollte, es wieder gut zu machen. Doch ich erwiderte jedes Mal aufgebracht, dass es nichts gab was sie wieder gut machen konnte.

Der Donnerstag war der Tag in meinem Stundenplan, den ich am wenigsten leiden konnte. Nicht nur, dass ich Professor Jones ganze zwei Unterrichtsstunden hintereinander ertragen musste. Ich durfte auch noch Professor Lightman bei einem seiner einstündigen Vorträge zuhören und wurde beim Kampftraining von Jones zu einem Kampf gegen Damien verdonnert.
Entweder er wollte sehen, wie ich fertig gemacht wurde. Oder er hoffte, dass ich noch einmal ausrasten würde und er einen Grund hatte, mich von der Akademie zu werfen.
So oder so, es war nicht gerade mein Glückstag.
Als Jones dann auch noch ankündigte, dass er die heutigen Kämpfe bewerten würde, war meine Laune endgültig im Keller.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Eve, die mir ein ermutigendes Lächeln schenkte, ehe ich mich Damien zuwandte.
"Bereit, fertig gemacht zu werden?", knurrte Damien leise, sodass nur ich es hörte.
Ich schnaubte.
"Davon träumst du!"
Er grunzte und hob die Fäuste.
"Sei froh, dass du deine dämlichen Kräfte benutzen darfst. Ohne die hättest du ja nicht mal eine Chance!"
Ich spuckte vor ihm auf den Boden.
"Ach ja?! Willst du es austesten?"
Jones klatschte ungeduldig in die Hände.
"Wollt ihr noch weiter Kaffeeklatsch abhalten oder fangt ihr jetzt bald mal an?!"
Ich verdrehte die Augen, ging jedoch in Kampfhaltung.
Damien stürmte auf mich zu und versuchte mich zu Boden zu reißen, doch ich wich geschickt aus und attackierte ihn von der Seite.
Mehrmals wich ich seinen Tritten und Schlägen aus, doch irgendwann erwischte er mich ziemlich hart am Kopf mit seiner geballten Faust, sodass ich nach hinten taumelte.
Jetzt reichte es mir...!
Wutentbrannt richtete ich meine Konzentration auf seinen Körper und schleuderte ihn mit einer ziemlichen Wucht mehrere Meter nach hinten.
Dort blieb er ächzend liegen, bis ihm einer seiner Nyx-Kumpel aufhalf.
Feixend grinste ich ihn an.
"Wer ist der nächste?"
Kilian, Lucas und Eve klatschten lachend Beifall, während Shadow mir einen beunruhigten Blick zuwarf.
Ich winkte ab, um ihm zu signalisieren, dass ich alles unter Kontrolle hatte.
"Du willst also unbedingt gegen noch jemanden antreten?", hakte Jones mit einem höhnische Grinsen nach.
Ich zuckte die Schultern.
"Ich denke, jeder hier kann bezeugen, dass Damien nicht gerade ein ebenbürtiger Gegner für mich ist", entgegnete ich selbstgefällig und hoffte, dass das Jones eine Lektion war. So einfach konnte er mich schließlich nicht dazu bringen, die Kontrolle wieder zu verlieren!
Doch Hochmut kam bekanntlich vor dem Fall...
"Dann liefere ich dir jetzt mal einen mehr als ebenbürtigen Gegner", zischte Jones und baute sich vor mir auf.
Erst zu spät realisierte ich, dass er damit sich selbst meinte.
"Und? Bist du immer noch so erpicht darauf, gegen einen anderen Kontrahenten anzutreten?", höhnte er und hob abschätzig die Augenbrauen.
"Wieso nicht", erwiderte ich und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
"Denken Sie nicht, dass ist ein wenig zu...", mischte sich Shadow ein.
"Deine kleine Freundin hat sich das selbst eingebrockt!", unterbrach ihn Jones. "Du solltest jetzt lieber still sein und deine Solidarität gegenüber den Mitgliedern deiner Fraktion nicht vergessen"
Er warf ihm einen spöttischen Blick zu. "Das war dir doch bisher immer so wichtig, nicht wahr?"
Dann wandte er sich wieder an mich.
"Sieh das als kleine Lehre, damit du aufhörst, dich selbst ständig zu überschätzen, Aline"
Ohne mir irgendeine Chance zu geben, mich auf den Kampf vorzubereiten, preschte Jones nach vorne und traf mich knapp unter dem Auge. Doch statt zurückzuweichen, rammte ich ihm meinen Fuß mit voller Wucht gegen das Schienbein und ließ meinen Ellenbogen seitlich auf sein Gesicht treffen.
Jones war nicht Harry. Rohe Gewalt lag ihm nicht. Nahkampf und Angriff waren nicht seine Stärke.
Doch genau das schien er selbst zu wissen, denn er trat einen Schritt zurück und fokussierte mich mit seinen dunklen Augen, die er zu Schlitzen verengt hatte.
Und plötzlich erkannte ich meinen Fehler.
Ich konnte nicht gegen Jones gewinnen, wenn nicht einmal ein Dutzend Nymphen gegen seine Kräfte ankamen.
Alles um mich herum begann sich zu drehen, mein Magen verkrampfte sich und es wurde so kalt, als befände ich mich auf einmal am Nordpol.
Doch es war nicht diese Art von Kälte, die einen frösteln ließ und den Wunsch nach einem warmen Kakao entfachte. Es war die Art von Kälte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ und einen von innen zu zerreißen schien.
Wenn sich so Angst anfühlte, dann hatte ich bisher keine echte Angst gekannt...
Ich versuchte mich auf Jones zu konzentrieren, doch mein Blick war viel zu verschwommen.
Meine Kräfte schienen genauso gelähmt zu sein wie ich.
Doch dann ertönte auf einmal eine laute Stimme und alles verschwand so schnell, wie es gekommen war.
Benommen blickte ich zu Jones hoch und realisierte, dass ich auf dem Boden kniete.
Ich blinzelte und erhob mich, wobei meine zittrigen Beine kaum mein Gewicht tragen konnten.
"Was zum Teufel fällt dir ein, William?!", rief Professor Morgan.
Ihre Stimme war markerschütternd laut und hallte auf dem gesamten Trainingsgelände wieder.
Die meisten Schüler blickten eingeschüchtert zwischen Jones und Professor Morgan hin und her.
Einige besorgte Blicke lagen auf mir.
"Irgendjemand muss ihr ja Vernunft beibringen - wenn du es nicht schaffst", antwortete Jones scharf.
Professor Morgan lief kopfschüttelnd auf ihn zu.
Dann schnellte ihre Hand auf einmal vor und traf mit einem lauten Klatschen auf Jones' Wange, wo sie einen roten Abdruck hinterließ.
Einige der Schüler sogen scharf die Luft ein.
"Sie ist meine Tochter, William. Bekomm das in deinen Kopf!", rief Professor Morgan aufgebracht. Sie funkelte ihn aus ihren kalten, eisblauen Augen an.
"Und solltest du noch einmal auf so eine bescheuerte Idee kommen, wirst du dir wünschen, dass die Konsequenzen daraus, bloß eine Ohrfeige wären."
"Hast du den Verstand verloren?!", zischte Jones und betastete seine Wange.
Professor Morgan schüttelte den Kopf. "Du hast du Verstand verloren, wenn du denkst, du könntest dich einfach mit jemandem aus meiner Familie anlegen."
Bevor er etwas erwidern konnte, schnitt sie ihm das Wort ab. "Es ist mir vollkommen egal, wofür du denkst, dass sie so etwas verdient hatte. Du wirst auf keinen Fall noch einmal so mit einem Schüler umgehen - schon gar nicht mit Aline. Haben wir uns verstanden?!"
Jones verschränkte die Arme.
"Drohst du mir etwa, Minerva?"
Sie lächelte kalt.
"Oh, ja. Das tue ich. Und du weißt ja, William. Ich kenne deine gesamte Vergangenheit und ich kenne all deine Schwächen. Ich würde jetzt an deiner Stelle also lieber still sein."
Als Jones tatsächlich nichts mehr entgegnete, wandte sie sich an uns Schüler.
"Der Unterricht ist beendet. Ihr könnt jetzt zum Essen gehen."
Das ließen sich die meisten nicht zweimal sagen und liefen eilig mit geduckten Köpfen davon.
Ich warf Professor Morgan ein schwaches Lächeln zu, nachdem auch Jones sich vom Trainingsgelände entfernt hatte.
"Danke", flüsterte ich.
Sie nickte bloß.
"Er ist zu weit gegangen. Tut mir leid."
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, mir tut es leid. Ich hätte ihn nicht provozieren sollen..."
Vorsichtig legte sie mir eine Hand auf die Schulter.
"Kommst du klar?"
Ich biss die Zähne zusammen und nickte - auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es noch etwas dauern würde, bis die Kälte aus meinem Innern wirklich verschwunden war.

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