56. Kapitel

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Ich fuhr herum und erblickte hinter mir eine Frau mit lange, schwarzen Haaren und einem hellgrauen Cape.
Erst nach einigen Sekunden erkannte ich sie wieder.
Es war die Frau, die sich in dem Café als eine Freundin von Professor Morgan ausgegeben und die ich später in der Stadt wiedergesehen hatte.
Diesmal lief sie jedoch nicht eilig davon, sondern starrte mich unverblümt an.
"Wer sind Sie?", fragte ich, während ich einen Schritt zurückwich.
Wenn ich eines in der Unterwelt gelernt hatte, dann, dass man nur den wenigsten trauen konnte.
Außerdem erschien es mir ziemlich unheimlich, dass ich nichts über die Fremde hatte herausfinden können.
Sie winkte lächelnd mit einer Handbewegung ab.
"Das ist unwichtig"
Ich runzelte die Stirn.
"Was wollen Sie von mir?!"
Sie ignorierte meine Frage und trat näher an mich heran.
"Du hast dich in dem Kampf gegen die Nymphen wirklich gut geschlagen", stellte sie fest.
Perplex weitete ich die Augen.
Woher wusste diese Unbekannte von unserem Kampf? Hatte sie mich beobachtet?
"Was man nicht alles tut, um seine Familie zu beschützen, nicht wahr?"
Misstrauisch verschränkte ich die Arme.
"Ich habe Professor Morgan nicht beschützt", erklärte ich und kniff die Augen zusammen.
"Nicht, dass es Sie etwas anginge...!"
Sie lächelte wieder.
"Oh, doch. Das tut es allerdings."
Poseidon wieherte hinter mir nervös und spritzte dann einen gewaltigen Wasserschwall auf die Fremde.
Blitzschnell - so, dass ich es nicht einmal richtig sah - riss sie ihre Hände abwehrend vor den Körper. Ein glühender Schutzschild bildete sich vor ihr und ließ das Wasser, das darauf prallte, augenblicklich verdampfen.
So schnell wie er erschienen war, verschwand der flammende Schild wieder.
"Dein Kelpie scheint dich ebenfalls beschützen zu wollen", stellte sie amüsiert fest.
Irgendetwas an ihrem Lächeln war so unheimlich, dass ich schauderte.
"Keine Angst", fügte sie hinzu. "Du hast nichts von mir zu befürchten. Aber du solltest dich in Acht nehmen. Die Unterwelt ist unberechenbar"
Sie drehte sich um und lief in Richtung der Bäume.
"Sagen Sie mir, wer Sie sind!", verlangte ich.
Die Unbekannte wandte sich lächelnd zu mir um.
"Das wirst du noch erfahren, Aline Silva Blackwell."
Dann verschwand sie in den Schatten des Waldes.
Erst einige Minuten später wurde mir bewusst, dass sie mich bei meinem Zweitnamen genannt hatte.
Was wusste sie noch alles über mich?!
Und vor allem: Woher hatte sie dieses Wissen?
Verdammt! Was zum Teufel wollte diese Frau nur von mir?
Über all diese Fragen zerbrach ich mir auf dem Weg zurück zur Akademie den Kopf.
Erst als ich Shadow sah, der auf mich zu kam, hörte ich auf über die Fremde nachzudenken.
"Hey, Aline", rief er mir entgegen.
Ich lächelte.
"Hey."
"Warst du trainieren?", fragte Shadow, als er vor mir Stehen blieb.
"Ja. Ich musste irgendwie auf andere Gedanken kommen"
Kurz überlegt ich, ihm von der mysteriösen Frau zu erzählen, beließ es dann jedoch bei meiner Antwort.
"Ich kann immer noch nicht glauben, dass das mit Nymphen jetzt überstanden ist", meinte Shadow nachdenklich.
"Aber ich bin echt froh, dass wir die Dinger ein für alle mal los sind!"
Wir steuerten auf den Gemeinschaftsraum zu und ließen uns auf zwei Sesseln in einer der hinteren Ecken des Raumes nieder.
"Was ist eigentlich mit deiner...", fing Shadow vorsichtig an, korrigierte sich jedoch dann sofort, "mit Professor Morgan?"
Ich zuckte desinteressiert die Schultern.
"Ich werde es keinem weitererzählen. Aber ich werde es auf keinen Fall einfach so hinnehmen."
Ich seufzte. "Ich meine... Das hat mir nur umso mehr gezeigt, wie wenig ich diese Frau überhaupt kenne. Ich weiß nichts über sie. Zumindest nicht genug, um ihre Moral nicht in Frage zu stellen..."
Shadow nickte verständnisvoll.
"Das heißt, du wirst ihr erst einmal aus dem Weg gehen?"
"Das ist wohl das Beste", antwortete ich.
Einige Zeit saßen wir bloß schweigend nebeneinander. Dann grinste Shadow plötzlich.
Ich sah ihn fragend an und hob die Augenbrauen.
"Ich hab eine Idee, was wir machen können, um dich auf andere Gedanken zu bringen"
Nun grinste ich ebenfalls und hob meine Augenbrauen noch ein Stück höher.
Shadow lachte.
"So war das gar nicht gemeint... Auch wenn ich dagegen natürlich auch nichts einzuwenden hätte"
Er warf mir ein anzügliches Grinsen zu.
"Aber ich dachte eigentlich an den nächstgelegenen Freizeitpark. So etwas in der Art gibt es auch bei euch in der Oberwelt, oder?"
Ich nickte. "Klar."
"Aber ganz sicher keinen mit magischen Bereicherungen", entgegnete Shadow mit einem geheimnisvollen Schmunzeln.

"Wow. Du siehst wirklich gut aus", stellte Shadow grinsend fest, als ich wenig später die Treppe zum Speisesaal hinunter lief.
Shadow hatte sich seine Lederjacke und schwarze Bikerstiefel aus seinem Zimmer geholt, während ich mir einen kurzen schwarzen Rock mit überkreuzten Schnürungen an der Seite und ein knallrotes Top übergezogen hatte.
Allerdings hatte er wesentlich weniger lange gebraucht als ich, da Eve auf ein Mitspracherecht bei meiner Klamottenauswahl bestanden hatte - und mir sogar ein wenig roten Lipgloss aufgequatscht hatte.
Das Zeug roch meiner Meinung nach allerdings viel zu stark nach Erdbeer...!
"Das kann ich nur zurück geben", erwiderte ich augenzwinkernd.
Shadow ließ seinen Blick an mir herabwandern und lächelte.
Dann nahm er meine Hand und verließ gemeinsam mit mir das Gelände der Akademie.
Den ganzen Weg in die Stadt über alberten wir herum, sodass mir der Pfad wesentlich kürzer vorkam, als bisher.
In der Stadt angekommen führte Shadow mich zu einer Station der 'Hyperloop'.
Zwar erinnerten die Wagons tatsächlich an eine etwas modernere U-Bahn, doch die Hyperloop bewegte sich im Gegensatz zur Subway der Oberwelt mit Schallgeschwindigkeit. So kam es, dass wir nach nicht einmal zehn Minuten bereits 120 Meilen von Salem entfernt anhielten.
"Willkommen in der Lotus-Stadt", erklärte Shadow theatralisch und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf die riesige Stadt, deren Anblick sich mir nun bot.
Eve hatte mir schon einmal von ihrer Heimatstadt erzählt. Doch in echt war sie noch viel überwältigender, als ich erwartet hatte.
Die Lotus-Stadt war mit keiner Metropole, die ich kannte, zu vergleichen.
Moderne, hoch digitalisierte Wolkenkratzer und Gebäude in runden Formen waren mit einer wuchernden, grünen Natur vereint.
Überall sah ich Efeu und Ranken mit bunten Blüten, die sich die Mauern emporschlängelten. Anscheinend gab es hier keine richtigen Straßen, nur schmale, mit Gras bewachsene Wege. Der Verkehr befand sich stattdessen in der Luft und zahlreiche Seilbahnen und Brücken verbanden die vielen Gebäude.
Im Herzen der Stadt thronten majestätisch auf einer Lotusblumen-förmigen Plattform mehrere Paläste.
Nicht weit entfernt von uns sah ich viele blinkende Lichter und ein ungeheures Riesenrad, welches in den Himmel ragte. Das hier war also der Freizeitpark, von dem Shadow gesprochen hatte.
Shadow ergriff meine Hand und zog mich hinter sich her, während ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam.
Wenn ich gedacht hatte, das Salem der Unterwelt hatte etwas Magisches an sich, dann hatte ich keine Ahnung gehabt, was mich hier erwartete.
"Ist jede Stadt bei euch so... so...?", fragte ich und gestikulierte wild, weil mir kein passendes Wort für die Lotus-Stadt einfiel.
Shadow grinste.
"Nun ja, soweit ich weiß kann man die Oberwelt nicht mit unseren Städten vergleichen... Aber ich war selbst nie dort. Ich kann also keinen wirklichen Vergleich aufstellen"
Er zuckte die Schultern und lief ein wenig schneller.
In diesem Moment wirkte er wie ein ungeduldiger Junge, der es gar nicht erwarten konnte, zum Freizeitpark zu gelangen.
Doch ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er mir diesen Teil der Unterwelt unbedingt zeigen wollte.
Ein Meer aus bunten Lichtern und ein fröhliches Chaos aus Stimmen, Musik und Geräuschen empfing uns als wir das Gelände des weitläufigen Freizeitparks betraten.
Würde man nicht genau hinsehen, könnte man diesen Ort möglicherweise sogar für einen Schauplatz in der Oberwelt halten.
Doch beim näherem Betrachten fielen mir die Menschen auf, die ohne irgendwelche Sitze oder Seile in der Luft schwebten - als hätte jemand die Schwerkraft für sie ausgestellt - oder diejenigen, die sich grölend über das Wasser bewegten, als wäre es fester Boden. Gleich neben uns befand sich ein Stand mit Zuckerwatte, durch die rosafarbene und violette Blitze zuckten, und ein Schießstand, an dem durch bloße Augenbewegung Pfeile auf eine Dartscheibe geschossen werden konnten.
Mein Blick wanderte über die Gewinne, die aus sich auf unheimliche Weise bewegenden Teddybären, summenden Pflanzen und kleinen Vögeln, die zu brennen schienen, bestanden.
Schaudernd wandte ich mich ab.
Die Unterwelt war sowohl atemberaubend als auch furchteinflößend mit ihren Kreaturen, ihrer Magie und der erschreckend weit entwickelten Technik.
"Ich frage mich, ob ich mich an all das hier jemals gewöhnen werde", murmelte ich grinsend. "Das ist alles so absurd!"
Shadow lachte leise und zog mich dann weiter.
"Eines Tages bestimmt...!"

Academy of Salem Where stories live. Discover now