𝟩. 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭

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Lange blickte Leonora dem weißen Wagen hinterher. Auch als die Rückleuchten bereits in der nebligen Dunkelheit verschwunden waren, blieb sie noch einige Minuten auf der Straße stehen.
War es die richtige Entscheidung gewesen, Aline gehen zu lassen?
Fröstelnd schlang sie den rosafarbenen Morgenmantel etwas enger um sich und blickte auf ihre Füße herab, die in flauschigen, pinken Pantoffeln steckten.
Sie hatte wohl alles in ihrer Macht stehende getan, um ihre Nichte vor dieser Welt zu warnen.
Es bereitete ihr jedoch Unbehagen, was Aline dort herausfinden könnte.
Nicht ohne Grund hatte sie ihr den Namen ihrer Mutter nicht verraten.
Sie wusste zwar nicht, wo diese gerade war, doch wenn sie noch lebte und ihre Tochter finden würde, würde sie sie kennenlernen wollen. Um jeden Preis.
So war sie nun einmal.
Und womöglich würde Aline dann das Gleiche wie John passieren.
Leonora versuchte krampfhaft, nicht zu weinen. Doch der Gedanke an ihren toten Bruder war einfach zu schmerzlich.
Sie wusste nicht, ob sie vor Kälte oder vor Angst zittert oder ob es bloß an der bitteren Erinnerung lag.
Eilig lief sie ins Haus.
Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Immerhin könnte sie einen alten Schulfreund von John kontaktieren, dessen Nummer John ihr für Notfälle gegeben hatte. Doch wie sollte der ihr schon weiterhelfen?
Es war dumm zu hoffen, dass sie Aline nicht erkennen würde. Sie war schließlich ihre Mutter - auch wenn sie das letzte Mal vor vier Jahren aufgetaucht war und Aline sich inzwischen ziemlich verändert hatte. Jetzt sah sie ihrem Vater allerdings umso ähnlicher mit den braunen, gewellten und meist leicht zerzausten Haaren und dem herzförmigen Gesicht. Nur ihre Augen hatte sie wohl von ihrer Mutter...
Verdammt! Warum hatte sie Aline gehen lassen? Sie musste doch auf ihre Nichte aufpassen. Das hatte sie sich nach dem Tod ihres Bruders geschworen. Und jetzt ließ sie sie einfach im Stich.
Leonora ließ sich gegen die Wand sinken und begann leise zu schluchzen.
Vor ihren Augen erschien das Bild, der wütenden Frau, die vor vier Jahren urplötzlich aufgetaucht war und deren Gesicht sie nicht sofort hatte zuordnen können.
Doch als die fremde Frau gefordert hatte, Aline kennenzulernen, hatte Leonora sofort gewusst, wer sie war und hatte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen wollen.
Aber die Frau hatte die Tür mit einer erstaunlichen Kraft aufgehalten.
Wie will jemand wie du dich schon um sie kümmern?, hatte sie höhnisch gefragt. Du bist doch nicht einmal im Stande, dein eigenes Leben unter Kontrolle zu halten.
Womöglich hatte sie damit Recht gehabt, das musste Leonora sich eingestehen. Doch das war kein Grund Aline in die Obhut dieser Verrückten zu geben!
Leonora hatte nie verstanden, was John in dieser Frau gesehen hatte. Zugegebenermaßen hatten sie sich auch nicht sonderlich gut gekannt und Leonora war ihr gegenüber nicht gerade vorurteilsfrei gewesen.
Aber letzten Endes hätte sie Aline wohl nur in Gefahr gebracht.
Leonora begann nervös auf ihren Fingernägeln zu kauen - eine nervige Angewohnheit aus ihrer Schulzeit.
Dann stand sie eilig auf, suchte ihr Telefon und wählte die Nummer, die sie von John hatte.
Einige Sekunden lang tutete es bloß und Leonora wollte bereits wieder auflegen, als plötzlich eine Männerstimme ertönte.
"Hallo?"
Leonora schluckte.
"Guten Morgen. Spreche ich mit... ähm Landon?"
"Ja, das bin ich.", kam es als Antwort aus dem Telefon. "Und wer sind Sie?"
"Leonora Blackwell"
"Blackwell?", hakte Landon skeptisch nach. "Sind Sie etwa...?"
"Johns Schwester", erklärte sie.

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