4. Kapitel

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Nachdem Harry uns über eine große Steintreppe in den ersten Stock geführt hatte, präsentierte Sofía mir begeistert den Flügel der Metis, der hauptsächlich aus Glas und weißem Marmor bestand. Die Schlafräume befanden sich hier in den Türmen und boten eine atemberaubende Aussicht auf das weitläufige Gelände der Akademie und den Wald ringsherum.
Bevor wir uns dem Flügel der Artemis zuwandten, zeigten mir die beiden noch die Bibliothek der Akademie.
Ich war eigentlich kein großer Fan von Büchern und las selber so gut wie nie, doch die gigantischen Regale voller Bücher hatten etwas Faszinierendes an sich.
An den Wänden, die nicht mit Regalen bedeckt waren, befanden sich verschiedene Schriften und Wörter. Einige konnte ich als Englisch und Latein identifizieren. Anderes kam mir gänzlich unbekannt vor.
Sofía wirkte genauso gebannt von der Bibliothek wie ich, obwohl sie diese sicher schon viele Male betreten hatte. Allerdings konnte ich mir auch gut vorstellen, dass dies ihr Lieblingsort an der Akademie war.
Harry hingegen lehnte lässig im Türrahmen und schien sich herzlich wenig für die alten Romane zu interessieren.
Wir wechselten einen kurzen, amüsierten Blick, als Sofía mit ihren Fingern so behutsam über einige Buchrücken strich, als wäre diese Bibliothek ein lebendes und fühlendes Etwas.
Sie räusperte sich und ließ ihre Hand sinken, als sie unsere Blicke bemerkte. "Also gut. Weiter geht's", murmelte sie und führte mich zu einer breiten Holztür, die mit einem vergoldeten Türklopfer versehen war. Der Raum hinter der Tür wurde durch in der Luft schwebende Fackeln erhellt, die bei unserem Eintreten wie von Zauberhand zu brennen anfingen. Die hintere Wand des Raums bestand ebenfalls aus loderndem Flammen, doch als ich mich ihr näherte, spürte ich seltsamerweise keine Hitze von diesem Feuer ausgehen. Neugierig streckte ich meine Hand aus. Doch statt meine Haut zu verbrennen, machte das Feuer mir Platz und enthüllte so die Dachterrasse, die hinter der eigenartigen Feuerwand lag.
"Okay, das ist verdammt cool!", rief ich begeistert, während ich auf das Dach der Akademie heraustrat.
Sofía folgte mir zögerlich. Ich sah ihr an, dass sie nicht gerade großen Gefallen daran fand, durch eine Wand aus Feuer zu laufen.
Harry trat ebenfalls durch das Feuer, blieb jedoch nah an der Wand stehen.
Ich hingegen trat näher an die Dachkante heran und war in diesem Moment wirklich dankbar dafür, dass ich absolut schwindelfrei war.
Denn der Ausblick der sich mir bot, war einer der schönsten, die ich je gesehen hatte.
"Das ist ja der Wahnsinn", hauchte ich. Von hier aus wirkte die Stadt, die sich hinter dem Wald auftat, gar nicht mehr so riesig. Außerdem konnte ich auf der anderen Seite des Waldes eine weitere Stadt erkennen, die in ein mysteriöses goldenes Funkeln getaucht war, und dahinter das Meer.
"Das müsst ihr euch auch ansehen", rief ich meinen beiden Begleitern euphorisch zu.
Harry winkte ab. "Ich kenne den Ausblick ja schon", sagte er schnell. Mir fiel auf, dass er die ganze Zeit darauf bedacht war, nicht nach unten zu sehen.
"Höhenangst?", fragte ich grinsend.
Sofía lachte. "Harry doch nicht. Er hat vor gar nichts Angst."
Besagter räusperte sich verlegen.
"Nun... jeder hat vor etwas Angst, oder?"
Als Sofía ihm einen überraschten Blick zuwarf, fügte er gespielt streng hinzu: "Wehe, eine von euch erzählt das jemandem."
Ich schmunzelte. Harry war mir sofort sympathisch gewesen. Er hatte eine Art an sich, die ich von mir selbst nur allzu gut kannte.
"Welcher Fraktion gehörst du eigentlich an?", fragte ich ihn interessiert.
"Ich bin ein Artemis. Das hier war also zu meiner Schulzeit mein Flügel." Er lachte leise. "Ein wenig ironisch, oder?"
"Und wie kommt es, dass du hier Kampftrainer geworden bist?", erkundigte ich mich.
"Tja, für mich gab es nicht besonders viele Berufsaussichten."
Fragend sah ich ihn an.
"Ich verfüge über keine Kräfte", erklärte er. "Und kämpfen ist nun mal das, was ich ganz gut kann"
"Er untertreibt", warf Sofía ein. "Er ist der Beste überhaupt. Die Akademie wäre aufgeschmissen ohne ihn!"
Harry lachte und winkte bescheiden ab.
"Jetzt übertreibst du aber - und du weißt doch, dass Schleimen bei mir keine Extrapunkte bringt!", fügte er vorwurfsvoll hinzu.
Ich fragte mich, wie der Kampfunterricht bei Harry wohl aussah und ob sich alle Lehrer hier mit Vornamen ansprechen ließen. Wenn jeder auf der Akademie so herzlich und geduldig war wie Harry und Sofía, war das Ganze hier tatsächlich zu schön, um wahr zu sein.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, hier zur Schule zu gehen, keinerlei Verpflichtungen mehr zu haben und allzeit von Magie umgeben zu sein. Ich könnte mein ganzes Leben lang an diesem Ort bleiben, wenn ich wollte.
Als wir wieder in das Erdgeschoss der Akademie zurückkehrten, erreichten wir über eine schmale Wendeltreppe direkt den Flügel der Nyx. Der komplette Westtrakt der Schule war in einen düsteren Nebel gehüllt und strahlte etwas Geheimnisvolles, aber gleichzeitig auch Beunruhigendes aus.
Bei näherem Betrachten der an mir vorbeischwebenden Lichter, erkannte ich, dass es Glühwürmchen waren. Allerdings schien diese Art von Glühwürmchen doppelt so groß wie gewöhnliche Glühwürmchen zu sein und gab zudem sehr viel mehr Licht ab.
Einige Minuten lang betrachtete ich noch die Glühwürmchen. Dann warf ich Sofía, die mit verschränkten Armen im Gang stand und sich hier anscheinend nicht gerade wohlfühlte, einen kurzen Blick zu. "Was ist da hinten?", fragte ich und deutete in den Nebel hinein hinter dem etwas Helles funkelte.
"Sollten wir Aline jetzt nicht lieber das Außengelände zeigen?", wandte sich Sofía an Harry. Sie hatte es wohl wirklich eilig, von hier wegzukommen.
Harry setzte zu einer Antwort an, wurde jedoch von Schritten unterbrochen, die aus dem Nebel heraus geradewegs auf uns zusteuerten und an den dunklen Wänden widerhallten.
"Was macht ihr denn hier?", fragte eine schneidende Stimme.
"Und wer ist das?"
Ein etwas jüngerer Mann mit schwarzen Haaren und sehr blasser Haut trat aus den Schatten hervor und baute sich vor Harry auf, während er mich mit seinem Blick fixierte.
"Guten Morgen, Harry", sagte er kühl, während seine Augen immer noch auf mich gerichtet waren.
"Guten Morgen, Professor Jones", erwiderte Harry in einem lockeren Tonfall.
"Das hier ist Aline Blackwell", stellte er mich vor. "Eine künftige Schülerin von uns, die allerdings in der Oberwelt aufgewachsen ist. Es ist ihr erster Tag in der Unterwelt und daher wollten wir ihr alles zeigen"
"So, so", murmelte Professor Jones.
"Na dann, willkommen an der Akademie von Salem."
Mich beschlich das ungute Gefühl, dass er garantiert nicht meinte, was er sagte und dass ich mich vor ihm wohl besser in Acht nehmen sollte.
Professor Jones wandte sich wieder Harry zu. "Nichtsdestotrotz werdet ihr auf eure kleine Führung verzichten müssen. Der Flügel der Nyx sollte auch nur von Nyx betreten werden. Selbst wenn diese Oberweltlerin hier eine Nyx sein sollte - wovon ich nicht ausgehe", murmelte er, während er an mir herabblickte. "Dann wird sie diesen Teil der Akademie noch früh genug zu Gesicht bekommen."
Harry seufzte. "Denken Sie nicht es wäre in Ordnung, eine Ausnahme zu machen?", fragte er leicht genervt.
Professor Jones hob eine Augenbraue. "Soweit ich weiß, bin ich Ihr Vorgesetzter, Harry. Und es liegt in meinem Ermessen, ob ich es für angebracht halte, hier irgendwelche Oberweltler durch unsere Schule spazieren zu lassen."
Einige Sekunden starrten sich die beiden Männer schweigend an und ich erwartete schon, dass Harry zu einer Erwiderung ansetzen würde.
Doch er machte nur einen Schritt zurück und hob die Hände.
"Okay, okay. Wir werden Aline jetzt das Außengelände zeigen - falls das in Ihrem Ermessen liegt", fügte er hinzu und ich merkte, dass er ein Grinsen unterdrücken musste.
Professor Jones schnaubte bloß, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Nebel.
"Das war einer der vier Schulleiter", erklärte Sofía nachdem wir den Flügel der Nyx verlassen hatten.
"Wie du siehst sind manche Nyx also etwas... eigensinnig", murmelte sie.
Harry lachte und zuckte die Schultern.
"Ich finde sie machen einfach ein viel zu großes Theater um alles. Aber ich bin nicht der Meinung - die ja leider viele auch an der Akademie vertreten - dass die Nyx kein Teil der Academy of Salem sein sollten."
"Wieso haben denn so viele ein Problem mit ihnen?", fragte ich. Wenn alle der Nyx so waren wie Professor Jones, hatte es sicher einen guten Grund. Doch das konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen.
"Gute Frage", antwortete Harry. "Ich denke, manche sehen in ihnen einfach eine Bedrohung. Sie bringen die alten Traditionen der Unterwelt ins Wanken. Aber wenn du mich fragst, sind einige Traditionen auch etwas zu alt", fügte er grinsend hinzu.

Academy of Salem Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin