Nachtkresse Bündel 1

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Mein Puls pochte laut in meinen Ohren und vibrierte bis in meine Fingerspitzen. Ich konnte sie nicht mehr spüren. Meine Zunge klebte trocken an meinem Gaumen.
Jagdunfall. Fieber. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Ich versuchte, ihr Gesicht zwischen all den Erinnerungen an Moiras Tod zu sehen, doch jedes Mal, wenn ich blinzelte, sah ich Blut im Mundwinkel und blaue Äderchen in ihren Augen.

Rastlos durch mein bewegungsloses Starren, deckte Yessaia die Wunde auf, den Blick fragend auf mich gerichtet. Andrew lehnte sich abwartend zwischen zwei Fenster, die Arme fest vor dem Oberkörper verschränkt, seine Kette mit dem Sternanhänger zwischen den Fingern. Aber seine Augen durchdrangen selbst meine Knochen.

Meine Kehle wurde eng. Ich musste hier fort.
Violette Adern. Eine kleine Phiole mit rotem Gift. Sie jagten meine Gedanken und lösten mich von dem Geschehen. Ich wusste, dass ich mich bewegen sollte, doch ich konnte nicht. Alle Muskeln verkrampften sich, rebellierten gegen meine Kommandos. Ich würde hier sterben, wenn ich ihr nicht helfen konnte.

Violette Adern, rotes Gift. Es stahl mir die Sicht. Ich bekam keine Luft mehr. Der Stein des Rings kratzte über meine Haut. Sie war eingeschlossen mit mir in diesem Zimmer. Es war die Luft der Toten. Sie verfestigte sich in meinen Lungen, blockierten jeden Weg. Stahl ich ihr den Atem? Würde sie sterben, wenn ich weiter hier drinnen blieb? Ein höllischer Schmerz breitete sich zwischen meinen Schläfen aus, bis die Kissen und das Gesicht des Mädchens zu einer Masse verschwammen. Die Knie wurden weich und unstetig, als stünde ich immer noch im Marschland und nicht auf festem Boden. Ich stahl ihr die Luft, die sie benötigte-...

„Hey! Hol wieder Luft!" Finger schnippten vor meinen Augen, so nahe der Nase, dass ich zurückzuckte. Es war ein Reflex, nicht mehr, doch er durchbrach die Blockade der Muskeln. Alle Bilder lösten sich in kleine Rauchschwaden auf.
Die Sicht schärfte sich auf Yessaia ein, der auf einmal nur noch wenige Handbreit von meinem Gesicht entfernt stand und mich anstarrte. Wann war er dort hingekommen?
„Auf mein Kommando: Einatmen...", er wartete einige Sekunden, „...Ausatmen."

Ich blinzelte einmal und er wiederholte seine Anweisungen. Es war beinahe unmöglich, meine hektische Atmung an die ruhige Stimme anzupassen. Alles in mir schrie, dass ich ersticken würde, stranguliert von der Schuld und den Lügen, die ich mit hierher gebracht hatte. Doch sein forsches Auftreten hatte zumindest meinem Verstand eine kurze Pause gegeben, um mich selbst zu sammeln.

Einatmen.

Der Raum war nicht halb so dunkel und beengend, wie ich erwartet hatte. Das Fenster neben Andrew stand offen und ließ frische Luft herein, die das Mädchen sichtlich benötigte.

Ausatmen.

Sie hatte blonde Haare, die sich über die Kissen räkelten, ein schönes Gesicht, jung, aber von Schmerz und Fieber verzerrt. Ihre flatternden Lieder standen im harschen Kontrast zu ihrer sonst leblosen Erscheinung. Sie war ein bildschönes junges Mädchen.

Ausat-... nein warte! Einatmen.

Ihr Bruder hatte das Laken zurückgezogen und eine verbundene Wunde am Arm freigelegt, deren Sekrete durch den hellen Stoff sickerten. Außerdem hatte jemand eine violette Paste um die Ränder geschmiert. Moira hätte einen Anfall von unangemessenem Temperament bei so einem Anblick bekommen. Die Erinnerungen an ihre flegelhafte Wortwahl, drängten die Kopfschmerzen schrittweise zurück.

Yessaias Hände hatten sich fest um meine Oberarme geschlossen und hielten mich aufrecht. Seine großen Pranken brannten ihren eigenen Abdruck auf meine Haut. Sie sollten mich stabilisieren, doch dies war der Kerl, der mich aus meiner Heimat gerissen und vielleicht Henrics Leben auf dem Gewissen hatte. Innerhalb eines Herzschlages fühlte ich mich unwohl.
Mit einem kleinen Nicken bedeutete ich ihm, dass ich wieder alleine stehen konnte und machte einen wackeligen Schritt auf das Bett zu. Wo es Nevanam gab, gab es auch Wunder. Galt das vielleicht auch für falsche Nevanam?

Die letzte NevanamWhere stories live. Discover now