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Hayden

Die letzte Nacht war fruchtbar. Anders als sonst habe ich heute meinen Albtraum den ganzen Tag nicht aus dem Kopf bekommen.

Ich konnte mich kaum konzentrieren, weil sich der Traum so echt angefühlt hat, dass er jede Sekunde in meinen Knochen brennt.

Immer wieder bekomme ich Flashbacks von dem weißen Van, dem Gewitter, dem dunklen Himmel, den Menschen um mich herum.

Die Menschen, die mich hässlich angrinsen und mich verfolgen, die sich in meinem Gedanken fressen und dort alles zunichte machen. Und darunter Naomi.

Warum auch immer. Naomi, mit ihren schwarzen Haaren, die ihr glatt über die Schulter fallen. Naomi mit ihrem typischen Naomi - Grinsen.

Aber in meinem Traum war es nicht dieses Grinsen. Es war ein freches Grinsen, eines, was alles wunderschöne an ihr hässlich aussehen lässt. Was diese schöne Ausstrahlung, die sie an sich hat, verblasst.

Immer wieder muss ich mich selbst daran erinnern, dass es nur ein Traum war, dass Naomi nicht wirklich so ist, wie mein Kopf sie sich zusammen gespinnt hat.

Der Teil von mir, der Angst vor neuen Menschen hat, hat dieses Bild von ihr gezeichnet. Der Teil, den ich absolut nicht gebrauchen kann.

Der mich jedes Mal hindert, Jemanden kennenzulernen, weil er mich daran erinnert, was Menschen mit einem anstellen können. Was Gefühle mit einem anstellen können.

Immer wieder starre ich auf ihre letzte Nachricht, die ich immer noch nicht beantwortet habe. Ich frage mich, ob sie sich fragt, warum ich noch nicht geantwortet habe, oder ob es ihr egal ist.

Ich schreibe eine Nachricht, aber lösche sie wieder. Und wieder und wieder. Irgendwann schließe ich die Augen und klicke blind auf senden.

Ich: Ist ein wenig kurzfristig, aber wie wärs heute Abend? Oder kannst du abends nicht gut lernen?

Sie ist nicht online und liest die Nachricht auch dementsprechend noch nicht, also mache ich mein Handy aus und gehe zur Arbeit, vielleicht kriege ich ja dort endlich meinen Kopf frei.

°°°

Nach Feierabend nehme ich einen Bus später, weil ich eine halbe Stunde brauche, um zur Bushaltestelle zu laufen. Und das, weil ich erstens komplett ausgelaugt bin und ungefähr so schnell wie ein achtzigjährige alte Dame.

Zweitens, weil ich den ganzen Weg lang auf mein Handy starre und darauf warte, bis sie antwortet. Oder wenigstens online kommt. Aber das tut sie nicht.

Als ich im Bus sitze, antwortet sie dann doch und bewirkt, dass ich das fette Grinsen den restlichen Weg nicht mehr von den Lippen kriege.

Naomi: Warum nicht? Ich bin sowieso noch unterwegs und könnte um halb acht rüberkommen.

Ich antworte nicht mehr, sondern versuche, mit meinen Gedanken die des Busfahrers zu kontrollieren, sodass er schneller fährt.

Keine Ahnung wieso, aber heute Abend bin ich einfach nicht in der Stimmung, allein zu sein. Ich möchte mich mit ihr unterhalten, sie sehen, ihr Grinsen sehen, und dabei ignoriere ich, dass ich eigentlich diejenige bin, die keine Lust zu lernen hat.

Als der Bus endlich an meiner Haltestelle hält, renne ich nach Hause, um mich noch ein wenig frisch zu machen.

Mum ist mit Sophie im Arm auf der Couch eingeschlafen. Vorsichtig schließe ich die Tür zum Wohnzimmer, damit sie nicht aufwacht.

Ich schicke Naomi eine Nachricht, dass sie schreiben soll, anstatt zu klingeln. Und das tut sie.

Ich schleiche wieder nach unten und öffne ihr die Tür.

Sie grinst ihr Naomi - Grinsen, und einen Moment poppt der Traum wieder vor meinen Augen auf. Ich versuche mit aller Macht, den Gedanken wegzuschieben, und begrüße sie mit einer Umarmung.

Sie trägt eine weite Jeans und ein helles Top, was ihr wirklich gut steht.

Das Top hatte sie schon häufiger an. Ich habe mich schon so an sie gewöhnt, obwohl wir uns erst einmal getroffen haben. Davor haben wir uns außer ein paar Malen immer nur flüchtig gesehen.

Und trotzdem kommt es mir so normal vor, sie hier in unserer Wohnung zu sehen. Ihre dunklen Haare sind nach hinten in eine Klammer gesteckt. Sie ist leichter geschminkt als sonst und sieht ein wenig müde aus, aber sie strahlt trotzdem.

Sie folgt mir in mein Zimmer und wir setzen uns wie letztes Mal an meinen Schreibtisch. Diesmal mache ich die Schreibtischlampe an, weil es schon ein wenig dunkel ist.

Ich habe noch so viel Arbeit, so viele Hausarbeiten, aber ich weiß genau, dass ich diesen Abend nichts schaffen werde. Weil ich einfach genießen werde, nicht allein zu sein. Ich weiß nicht, was passiert ist. Sonst bin ich gern allein.

Sie packt ihre Sachen aus ihrem Rucksack, dann schaut sie mich an. Ihr Blick gleitet über mein Gesicht, meine Haare, dann treffen unsere Augen sich wieder.

"Du siehst ziemlich müde aus.", stellt sie fest.

Ich nicke leicht. "Ich hab nicht besonders gut geschlafen.", gebe ich zu.

"Das tut mir leid.", sie verzieht den Mund zu einer Seite, als würde sie noch etwas sagen wollen.

Ich öffne mein Deutschbuch, aber dort sind nur leere Worte. Nichts, für das ich jetzt noch den Kopf hätte. Ich frage mich allmählich, warum ich nicht ehrlich zu mir selbst war und sie für morgen oder übermorgen eingeladen habe. Das hier bringt rein gar nichts.

"Am Wochenende solltest du mal richtig ausschlafen.", meint sie schließlich und lächelt dabei leicht.

"Ich werde es versuchen.", ich ziehe die Brauen hoch.

"Bist du Langschläferin?", frage ich sie.

"Unterschiedlich. Länger als elf kann ich nicht pennen, aber wenn ich kann, stehe ich auch nicht um sechs oder sieben auf.", erzählt sie und macht dabei ihre Klammer aus ihren Haaren und legt sie auf den Schreibtisch.

Ihre Haare fallen ihr locker über die Schultern und sie kämmt sie ein paar Mal mit den Fingern durch. Ich folge jeder ihrer kleinen Bewegungen mit den Augen.

"Ich wette mit dir, wenn ich dir einen Tee mache und dich ins Bett lege, schläfst du sofort ein.", meint sie schmunzelnd.

"Ich will doch aber nicht einschlafen."

"Du siehst aus, als bräuchtest du dringend ein bisschen Schlaf.", erwidert sie.

"Oder ich brauche einfach eine Dose Red Bull.", ich grinse.

Sie lacht und steht dann auf.

"Was machst du?", frage ich, aber sie antwortet nicht, sondern verlässt wortlos das Zimmer. Ich folge ihr nach unten bis in die Küche. 

High enough to fall for you✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt