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Naomi

Miss James hat mich ernsthaft drangenommen, als ich gerade über etwas ganz anderes nachgedacht habe.

Ich habe mich gefragt, ob Blinde auch etwas träumen können, wenn sie schon von Geburt an blind sind. Interessiert mich irgendwie.

Und egal wie viel ich drüber nachgedacht habe, ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.

Ich habe gerade mit dem Gedanken gespielt, heimlich zu googlen, aber dann kam Miss James fragte mich irgendwas, worauf ich natürlich auch keine Antwort hatte.

Aber na ja, meine Noten sind sowieso im Arsch. Ich muss mich auf jeden Fall verbessern, wenn ich mein Abi haben möchte.

Aber jetzt gehe ich erstmal mit Nora, Jolene und Mac in die Mall und ein wenig shoppen. Ich hatte mir vorgenommen, ein bisschen was für den Spätsommer zu kaufen.

"Ist das nicht Roy?", Noras Stimme holt mich aus den Gedanken.

Alle drei stehen an einem Geländer ein paar Meter weiter. Ich gehe zu ihnen. Sie starren alle auf einen Typen, den man unten im Einkaufszentrum lang laufen sehen kann.

Im nächsten Moment schaut er hoch und genau zu uns. Als ob er uns jetzt von hier oben gehört hat! Und abgesehen davon ist es tatsächlich Roy, der seine schulterlangen Haare nach hinten gebunden hat, was er eigentlich nie macht.

Es ist ein kleiner Fortschritt, würd ich sagen. Generell finde ich lange Haare bei Männern nicht hässlich, aber ihm steht es irgendwie nicht, weil er auch noch eine Brille trägt.

Und trotzdem ist jedes zweite Mädchen unserer Schule in ihn verliebt.

"Hey, Leute!", Roy ist die Rolltreppe hoch gekommen und kommt auf uns zu. Aus irgendeinem Grund habe ich jetzt gar keine Lust auf ihn.

Vielleicht ist dieser Grund, weil er mich immer ansieht, als wolle er mich jede Sekunde fragen, ob er mich zu einem Dinner einladen darf, aber sich nicht traut.

"Roy, was treibst du hier?", Mac zieht ihn in eine brüderliche Umarmung und ich frage mich, seit wann die beiden so gut miteinander sind. Nicht, dass es mich interessieren würde.

Nachdem Nora Roy eingeladen hat, mit uns zu kommen, gehen wir in einen Laden, der jeden möglichen Krimskrams verkauft.

Ich habe es früher geliebt, wenn meine Eltern und ich gefühlt einmal im Jahr hierher gekommen sind. Dieser Laden war mein absoluter Lieblingsladen, weil man hier wirklich immer was findet.

"Naomi, wie gehts dir?", Roy steht plötzlich neben mir, als ich mir gerade ein Magazin durchgelesen habe. Ich packe das Magazin weg. "Gut, und dir?"

"Auch. Bisschen stressig Schule, was?"

"Ja, sehr. Ich versuche, mich zu verbessern.", ich könnte ein richtiges Gespräch aufbauen, damit es nicht so unangenehm ist. Aber ich habe andererseits keine große Lust, mich lange mit ihm zu unterhalten.

"Das nimmt man sich immer vor, oder? Aber es klappt eigentlich nie.", kommentiert er und nimmt sich ein Magazin über Sport aus dem Regal.

Ich gehe langsam weiter, weil in der nächsten Abteilung die Stressabbau Dinger sind, die man so quetschen kann. Ich liebe diese Dinger einfach zu sehr.

"Wenn ich mein Abi möchte, dann muss ich mich nunmal verbessern, das habe ich mir nicht vorgenommen.", murmele ich. Er folgt mir.

"Geht mir ähnlich. Ohne verbessern hätte ich wahrscheinlich eine 3,9 im Abitur."

"Wäre trotzdem ein Abi."

"Ein Abi ohne viele Möglichkeiten."

"Ja, stimmt.", ich nicke knapp. Dieses Gespräch ist langweiliger als die Stressbälle, die es hier gibt. Die sind aber auch langweilig, weil die alle voll hart sind.

"Na, schon was gefunden?", Nora taucht hinter uns auf.

"Nö, dieser Laden ist echt komisch.", sagt Roy. Innerlich will ich ihm den Kopf umdrehen. Dieser Laden ist meine halbe Kindheit und ganz bestimmt nicht komisch!

Nur, weil die Stressbälle heute nicht so toll sind, hat er andere Qualitäten, aber wenn er sich lieber auf ein langweiliges Gespräch mit mir einlässt, statt diese zu erkennen, dann... okay, ich sollte aufhören, mich da jetzt innerlich darüber aufzuregen.

"Guck nicht so gequält.", murmelt Jolene, die schon zwanzig Sachen in der Hand hält.

Darunter auch einer dieser Stressbälle, ein Bilderrahmen, eine Box in Pastellfarben, einen kleinen Schlüsselanhänger und eine Bürste zum Mitnehmen. Sie erkennt die Qualität des Ladens!

"Warum gucke ich gequält?", frage ich sie.

"Das weiß ich doch nicht.", Jolene lacht.

"Komm, wir gehen jetzt. Hat Roy dir schon den Kopf verdreht, oder was?", Mac schiebt mich zum Ausgang.

"Warum sollte er?", das war so unnötig von Mac. "Niemand verdreht mir den Kopf."

Mac zieht ungläubig die Brauen hoch. "Das meinst du nicht ernst?", erwidert er.

"Wer weiß das schon?", meine ich grinsend. Dann verlassen wir den Laden.

°°°

"Aber das Kleid wäre voll was für dich.", Jolene zupft an einem zart rosanen Kleid mit Blumenmustern und einem Rückenausschnitt. Es ist gar nicht so hässlich, wie man es sich an der Beschreibung zunächst vorstellen würde.

"Nein, aber für dich wäre es was.", Jolene hat sich ihre kurzen Locken hellblau gefärbt und ist seitdem auf einem Pastell-Farben Trip, was ich mega an ihr finde. Es passt so gut zu ihr.

"Ich bin ein bisschen zu rund dafür, Schätzchen.", meint sie mit einem halben Lächeln.

"Ich mag deine Kurven, sie würden super in dem Kleid zur Geltung kommen.", entgegne ich, während ich weiter die Kleiderstange durchforste.

Roy und Mac wollten zum Glück in ein Videospiel-Geschäft, sodass Nora, Jolene und ich mal ein wenig Zeit für uns haben.

"Das meinst du nicht ernst.", Jolene schaut mich mit einem genervten Blick an.

"Was denkst du eigentlich, warum ich dieses Oversized Top trage?", sie zupft an ihrem hellgrünen Shirt, was in einem Männer Schnitt und in viel zu großer Größe ihren ganzen Oberkörper bedeckt und so locker an ihr liegt, dass man absolut gar nichts ihrer Figur erkennen kann.

"Ich weiß, warum du es trägst. Aber du brauchst dich nicht für deinen Körper zu schämen.", antworte ich und nehme mir einen Bügel heraus, auf dem ein dunkelblaues Top mit V-Ausschnitt hängt.

"Willst du es noch nicht mal anprobieren?", sie hält mir immer noch das rosa Kleid entgegen.

"Nur, wenn du es auch anprobierst!", versuche ich, es auszuhandeln.

"Nie und nimmer.", Jolene schüttelt heftig den Kopf.

"Dann werd ich das auch nicht anprobieren. Aber das hier.", ich deute auf das dunkelblaue Top, was ich echt schön finde. 

High enough to fall for you✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt