KAPITEL 27| Sky

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Skyler 'Sky' Baker
In einem Land vor unserer Zeit, USA
29. September 2008

"Komm schon, Sky." Abys Stimme fühlte sich wahnsinnig weit weg an. "Wir müssen pünktlich sein." Rief sie wieder. Sie hatte meine Hand fest gepackt und zerrte mich durch die dichten, hektischen Straßen. Es war Dienstag.
"Sie hat gesagt wir müssen pünktlich sein." Rief sie und ich spürte die Verkrampfung in Abys Körper. Sie wollte so verzweifelt pünktlich sen. Und ich wollte pünktlich sein, weil sie pünktlich sein wollte.
Sie zerrte mich in das Bahnhofsgebäude und sah sich hektisch um. Gleis 4. Das wusste ich noch. Gleis 4, um 16.53 Uhr. Beinahe panisch riss Aby an meinem Arm. Denn wir beide wussten, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, dass niemand um 16.53 Uhr an Gleis 4 sein würde. Doch anders als ich, würde Aby Gründe dafür suchen. Und während ich wusste, dass es nicht unsere Schuld war, würde Aby sich selbst Vorwürfe machen.
Wir erreichten den Aufgang und ich erhaschte einen letzten Blick auf die Uhr am Ende des Ganges. Es war schon fast soweit.
Ich stolperte die Stufen hinter Aby hinauf und keuchte als wir endlich den Bahnsteig erreicht hatten. Hier oben war alles ruhiger, offener und heller. Es war als würden die großen Metallwürmer die Hektik fressen. Sich von der Unruhe ernähren und sie verschlucken. Nur Abys Unruhe schienen sie nicht zu wollen. Denn sie hatte mich noch immer schmerzhaft gepackt und blickte sich nun um. "Siehst du sie?" Fragte sie mich aufgebracht und außer Atem.
Langsam sah ich mich um. Überflog die Menschen, die ich sehen konnte. Doch niemanden davon kannte ich. "Sie hat noch Zeit." Erklärte Aby mir. Als wollte sie mich beruhigen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht um mich ging. Sie versuchte sich selbst zu überzeugen. Ihre eigenen Zweifel loszuwerden und zu überschreien. Wir wollten beide das sie kam. Und wir hatten beide daran geglaubt, dass sie kommen würde. Diesmal würde sie kommen.
Wir hatten uns ausgemalt wie es werden würde. Wie wir endlich eine Familie sein würden. Wie wir nicht mehr alleine waren. Vor einer Woche hatte man die kleine Wohnung in der wir mit ihr gelebt hatten verlassen müssen. Aby hatte uns gerettet, denn als die komische Frau vom Sozialamt kam und uns mitnehmen wollte, hatte sie mich gepackt und war weggerannt. Wenn sie uns mitnahmen, würde Mama uns nicht finden können.
Manchmal glaubte ich aber auch, dass sie uns nicht finden wollte. Denn auch in den letzten Wochen, hatte sie gewusst wo wir waren. Doch gekommen war sie nur einmal. Sie hatte uns von ihrem neuen Freund erzählt. Von dem Ort an dem wir leben würden und glücklich werden würden. Und sie erklärte uns, dass es heute losgehen würde. Heute um 16.53 Uhr von Gleis 4. Sie versprach uns wir würden uns hier treffen. "Sind wir am richtigen Bahnhof?" Fragte Aby und sah mich panisch an. Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Aber ich war mir sicher, dass wir am richtigen Ort waren. Nur sie war es nicht.
Wir waren auch noch eine Stunde später am richtigen Ort. Und auch eine weitere Stunde danach. Selbst um Mitternacht waren wir noch an dem richtigen Ort.
Als die große Uhr am Ende des Steiges auf Mitternacht sprang lächelte ich leise und drückte Abys Hand. Sie hatte geweint. Still und leise hatte sie sich an mich gelehnt und bitterlich geweint. Dann hatte sie nach Gründen gesucht. Und keiner dieser Gründe war sie. Dafür hasste ich sie manchmal. Dass sie Aby zwang sich selbst anzuzweifeln. Doch das hier war nicht unsere Schuld. Wir hatten alles richtig gemacht.
Aby blickte auf und sah mir direkt in die Augen. Auch ihr Blick fiel auf die Uhr. Bebend holte sie tief Luft und schloss gequält die Augen. Ich sah wie die Träume, die wir uns zusammengesponnen hatten vor unseren Augen zerbröselten. Alle kindischen, romantischen Vorstellungen verpufften auf einmal. Doch es überraschte mich nicht. Es tat weh, doch schlimmer war die Wut. Ich war wütend, weil es Aby so schlecht ging. Und ich war sauer, weil jeder andere Mensch auf der Welt eine Mutter hatte die sich um einen kümmern wollte. Das war nicht fair. Doch meine Trauer, meine Wut und dieses Gefühl der Machtlosigkeit würde mir nicht helfen, wenn ich nichts damit anfing.
Vielleicht waren wir für eine Familie nicht gemacht. Vielleicht sollten wir alleine bleiben. Es gab nur einen Menschen auf den ich mich verlassen konnte. Nur einen Menschen der mich nicht verlassen würden. Nur einen Menschen der mich nicht gehen lassen würde. Und darüber konnte ich froh sein. Denn immerhin war ich nicht ganz allein. Ich würde ihr den Rücken freihalten und sie mir, das war eines der wenigen Dinge, die ich mit absoluter Sicherheit wusste.
Wieder drückte ich ihre Hand und brachte sie damit dazu mich wieder anzusehen. Sachte hob ich meine Hand und strich ihr die Tränen von den Wangen. Die Familie die ich hatte reichte. Jetzt gerade reichte sie und sie würde mir auch mein ganzes Leben reichen.
Mit meinen Fingern strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und suchte ihren Blick. Sah in ihre Augen, die meinen so ähnlich waren und lächelte aufmunternd. Doch sie lächelte nicht. Sie musterte mich nur fragend. Noch immer lächelte ich sie an. Dann beugte ich mich zu ihr, drückte ihr ein Kuss auf die Wange und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte: "Happy Birthday, Aby!"

Freezin' Soul ( Freezin' 2)Where stories live. Discover now