30. Kapitel- Josephine

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Ich kann die ganze Nacht kaum schlafen. Ich liege wach und hänge meinen Gedanken nach.
Ob meine Eltern überhaupt schon bemerkt haben, dass ich weg bin? - Nein, sicherlich nicht. Dafür sind sie viel zu sehr mit ihrem eigenem Leben beschäftigt. 
Ich frage mich, wieso immer die Leute ein Kind bekommen, die sich nicht um es kümmern können. Das macht in meinen Augen keinerlei Sinn. 
Ich wette, meine Eltern haben mich nur bekommen, um ihr gemeinsames Glück zu vervollständigen. Aber genau das hat bei mir nicht funktioniert. Denn ich scheine einfach nicht in der Lage zu sein zu lieben. Und ganz ehrlich, ich will es auch gar nicht versuchen. 
Ich kann mich einfach nicht mit diesen banalen Problemen auseinandersetzen, die die Jugendlichen in meinen Alter anscheinend haben, weil ich sie einfach nicht habe oder vielleicht habe ich sie auch, aber bemerke sie nicht.
Ich habe noch nie meine Eltern angeschrien, weil ich so voller Wut auf sie war - was wahrscheinlich daran liegt, dass ich sie nie eines Blickes würdige.
 Ich war noch nie am Boden, weil ich Streit mit meiner besten Freundin hatte, weil ich nie irgendwelche Freunde hatte. Ich war noch nie Hals über Kopf verliebt.
Ich habe noch nie Schule geschwänzt oder irgendwas falsches gemacht.
Ich habe zuvor noch nie etwas getan, was jemand in meinem Alter normalerweise oder wahrscheinlich machen würde.
Ich weiß, dass ich nicht normal bin und in den meisten Momenten ist mir das egal und die anderen Momente lasse ich nicht zu. Ich kann nicht schwach sein; nicht wie damals. 
 Aber hier, auf diesem Ausflug mit Lars, da mache ich etwas, was ich nicht tun sollte. Etwas, was Menschen in meinem Alter machen und es fühlt sich ungewohnt an, aber auch... gut. Es ist schön, endlich mal etwas zu tun, was nicht von mir erwartet wird. Etwas zu tun, was nicht das ist, was ich normalerweise nicht tun würde. Und vor allem, fühle ich mich richtig, auf eine ganz merkwürdige Weise. 
Lars schaut mich nicht so an, als wäre ich ein Fehler im System. In seinem Blick liegt etwas anderes, etwas, was ich nicht ganz deuten kann. 
Er sieht in mir etwas, was ich nicht bin, aber was ich sein will und genau deshalb ist dieser Ausflug ein Fehler. Aber ein Teil von mir will diesen Fehler begehen und das ist ziemlich dämlich, findet der andere Teil. Und dieser andere Teil, der dagegen ist, lässt mich Dinge voller Gleichgültigkeit tun und sagen und ich will das manchmal nicht, aber ich muss es. Ich weiß nicht wieso, aber ich muss es. Als wäre es besser für mich und höchstwahrscheinlich ist es das auch. 
Ich höre, wie ein Reißverschluss geöffnet wird und dann das Rascheln eines Zeltes. Lars ist wach. Ich lausche hinaus. Wieso ist er schon wach? Weiß er, dass ich wach bin?
Alles sehr sehr dämliche Fragen. Gott, ich verdumme in seiner Gesellschaft immer mehr. 
Dennoch werde ich bleiben! - Was will ich mir selbst damit beweisen?
Wenn meine Mutter mich sehen würde, wüsste sie wahrscheinlich nicht, ob sie vor Erleichterung aufschluchzen oder lachen würde, dass ihre Tochter endlich so ist, wie sie es will. Wild und frei. Genauso, wie sie es selbst gerne wäre. Aber dazu fehlt ihr der Mumm und nachdem sie meinen Vater geheiratet hat, war ihre Zukunft ja schon in Stein gemeißelt. 
Ich denke, die Hochzeit mit meinem Vater war wahrscheinlich einer der größten Fehler in ihrem gesamten Leben. Aber sie lächelt, bleibt stark und versucht ihre Gefühle abzustellen, nachdem ihre Ehe und auch noch ihre Tochter eine Katastrophe geworden sind. 
Sie könnte eigentlich alles hinschmeißen und nochmal neu anfangen; ich würde es ihr sogar gönnen und auch empfehlen. 
Aber sie ist wahnsinnig, zumindest laut Albert Einstein, der sagt schließlich mal "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert". Und genau das ist die Lebensform des Wahnsinns, deshalb muss sie ja wahnsinnig sein, irgendwie. 
Ich wende mich von meinen Gedanken ab und lausche nach draußen. Wenn ich ganz leise bin, kann ich Lars Atem hören. 
Soll ich jetzt schon rausgehen? Hilfe! Seit wann stelle ich mir so dermaßen unnötige und dumme Fragen? Vielleicht hätte ich ein Fieberthermometer mitnehmen sollen...
Ich warte noch fünf Minuten. Als ob das irgendwas ändern könnte?
Ich knurre leise, fluche über mich selbst und öffne dann mein Zelt und klettere hinaus. 
Lars dreht sofort seinen Kopf in meine Richtung und sieht mich durch seine großen blauen Augen neugierig an. 
"Morgen", sagt er. 
"Hallo", antworte ich. 
Ich setze mich neben ihn auf die Decke, die ich letzte Nacht dort vergessen hatte. 
"Hi", sagt er wieder. 
"Wir haben uns schon begrüßt"
"Ich weiß"
"Ja, wieso grüßt du mich dann nochmal?"
"Keine Ahnung, ist doch nicht verboten oder?"
"Nein"
"Eben"
Mist, ich bin jetzt schon wieder bissig. 
Wir schweigen uns an. Wie immer. 
"Wieso sind deine Familie und du eigentlich hierhergezogen?",  frage ich plötzlich. (Diese Frage brennt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge und gerade will ich irgendwie mit ihm reden)
Lars zuckt mit den Schultern. 
"Hattest du dort etwa keine Freunde?", bohre ich weiter. 
"Doch und sogar eine feste Freundin, aber mit ihr ist es schon lange vorbei", murmelt er.
"Wieso seid ihr nicht mehr zusammen?" Es interessiert mich nicht wirklich, aber der Höflichkeit halber, frage ich nach. 
"Es hat nicht mehr gepasst, laut ihr. Aber ich habe sie immer geliebt", sagt er. 
Geliebt, aha. 
Lars bemerkt meinen kritischen Blick. "Was ist denn?"
"Nichts. Nur diese Sache, zu Lieben. Das ist Schwachsinn", sage ich.
"Wieso sollte das Schwachsinn sein?", fragt Lars und sieht mich merkwürdig an.
"Naja, es ist dumm. Wieso setzt man das seelische Wohlbefinden aufs Spiel, obwohl man weiß, dass es letztendlich sowieso nur eine Enttäuschung sein wird?"
"Es ist nicht immer eine Enttäuschung", hält er dagegen. Was für eine naive Annahme!
"Doch, letztendlich wird es kaputtgehen. War ja schließlich auch bei euch so"
"Ja, vielleicht. Aber es geht doch nicht um das Ende oder den Anfang. Es geht um die Zeit, die man zusammen verbringt, um die Erlebnisse und um die Sachen, die man lernt. Das man einander hat. Das man jemanden hat und kennt, der einem ohne irgendwas zu sagen ein Lächeln auf die Lippen zaubern kann"
"Man lebt also danach in der Vergangenheit... nicht sehr intelligent, wenn man doch in der Zukunft lebt und dort genug Probleme hat", meine ich kritisch. 
"Nein, das tut man nicht, denn die Dinge, die man gelernt hat, bestimmen den eigenen Weg, den man geht. Es macht einem zu dem Menschen, der man ist", erklärt er.
"Bei dir hat das ja wunderbar geklappt"
Schon nachdem ich das gesagt habe, hätte die eine Hälfte von mir es gerne wieder zurückgenommen. Ich habe wieder etwas kaputtgemacht. Und genau das macht mir jetzt auch Lars Blick nochmal klar. Mist. 
"Nur weil du keine Ahnung von Liebe hast, musst du noch nicht gleich sagen, dass es falsch ist, zu lieben. Aber ganz ehrlich, du bist bemitleidenswert" und mit diesem Satz verschwindet er in den Wald.
Wieso? Wieso bin ich nur so, wie ich bin? Wieso schaffe ich es nur immer wieder alles kaputtzumachen?

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Hallo! Erstmal tut es mir sehr leid, dass ich solange nicht mehr an dieser Geschichte weitergeschrieben habe. Ich hatte einfach keine Motivation zum schreiben und ich hoffe sehr, dass sich das jetzt gelegt hat und wenn ja, dann wird das nächste Kapitel am Sonntag kommen :)

Wie definierst du Liebe?

Noch einen schönen Pfingstmontag :)!


Niemals... VielleichtWhere stories live. Discover now