„Wie kann er es nur wagen!", fauchte Julie auf dem Weg zum nächsten Klassenzimmer. Sie musste wieder husten. Es war noch einiger Zeit, bis zur nächsten Stunde, aber sie wollte die Zeit des Wartens noch nutzen, um ihren Aufsatz noch einmal zu korrigieren. Sie hatte sich während Binns' Unterricht mit Mary darüber unterhalten und Julie waren so manche Fehler aufgefallen, die sie gemacht hatte. Mary hatte Julie leider nicht begleitet. Die beiden waren Freundinnen und trotzdem lief Julie während der Schulzeit viel zu oft alleine herum, nicht das sie das stören würde. Denn man hatte seine Ruhe und konnte sich auf das wesentliche konzentrieren, nämlich das Lernen. Für den neusten Klatsch und totale Ablenkung war am Nachmittag noch genügend Zeit. Diese Ansicht akzeptierten Julies Freundinnen zwar, aber mitziehen taten sie nicht.
Habe ich denn jemals ein Training verpennt?", flüsterte Julie noch immer sauer in die kalte Luft der Ländereien hinein. Kräuterkunde war angesagt und die Änderungen an ihrem Aufsatz wurden auch schnell vorgenommen, aber dennoch ließ sie ein gewisser Gedanke nicht los. Dass er sich auch hatte an das Training erinnern müssen. Nie hatte sie es vergessen, sie war immer anwesend gewesen, selbst als sie eigentlich wegen einer Grippe im Bett liegen sollte. Nein, sie war immer da. Auch wenn das Wetter mehr als schlecht war, auch wenn es sie nervte, dass der ach so tolle Kapitän von seinen neuen Errungenschaften erzählte, sie war immer da gewesen. Warum also hielt er es für nötig, sie daran zu erinnern?
Okay, sie musste sich eingestehen, dass sie vor einigen Tagen tatsächlich kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, einfach mal nicht zu erscheinen. Wenn sie es täte, wie würde dann wohl Potters Gesicht aussehen? Wahrscheinlich würde ihm ihre Abwesenheit nicht auffallen. Er ignorierte sie sonst ja auch immer so gut es ging. Doch warum hatte er dann mit ihr geredet? Vielleicht war ihm ja der törichte Gedanke gekommen, dass sich an ihrer Einstellung ihm gegenüber etwas geändert haben könnte. Bei dem Gedanken musste Julie laut schnauben. Sie hustete plötzlich so stark, dass es ihr alle Kraft raubte. Trockener Husten war das Schlimmste was man haben konnte. Vielleicht hatte Potter ja auch nur ein schlechtes Gewissen, weil er dafür verantwortlich war, dass sie nun krank war.
„Ganz sicher nicht", hauchte Julie in die Stille hinein. Er würde niemals Mitleid zeigen.
Wenn es ganz ruhig und einsam war, dann durchbrach Julie gerne die Stille, indem sie ihre Gedanken aussprach. Wenn sie ihre Gedanken laut aussprach, dann merkte sie erst, ob sie wirklich Sinn ergaben. Selbst ihre eigenen Gedanken, überarbeitete sie wie ihre Aufsätze. Vielleicht schien das anderen gruselig, aber sie stand zu ihren Abnormalitäten, denn jeder hatte etwas, was andere nicht nachvollziehen konnten, nur bei manchen sah man es einfach nicht auf den ersten Blick.
Kräuterkunde war vorbei und Professor Longbottom hatte ihnen schon wieder aufgegeben einen Aufsatz zu schreiben. Zwei Aufsätze mussten die Schüler schon in der einen Woche abgeben und das schien dem Professor anscheinend nicht ausreichend.
„Professor Longbottom sollte echt mal weniger aufgeben", beschwerte sich Mary zu Julies rechten.
„Ich habe immer noch Angst, dass ich es mal nicht schaffe, meinen Aufsatz zu beenden", erwiderte Julie. Ein Hustenanfall lief Julie fast zu Boden gehen.
„Nicht sterben, ich brauche dich noch", meinte Mary aufmunternd, doch es verfehlte seine Wirkung ein wenig. „Und du weißt genau, dass du im Notfall immer noch mich als Hilfe hast, Julie, ich meine es ernst, falls du es irgendwie nicht hinkriegst, dann helfe ich dir gerne." Ein Lächeln stahl sich auf Julies Lippen. Das wurde ihr oft von Mary angeboten, aber irgendwie war sie noch nie dazu gekommen, es auch auszunutzen. Da war einfach dieser Drang, alles selbst zu schaffen. Hilfe wollte sie nicht annehmen, auch wenn es wirklich nett gemeint war und sie es auch wirklich gebrauchen konnte, aber ihr Inneres sträubte sich immer dagegen.
Sie waren in der Großen Halle angekommen. Die meisten Schüler saßen schon und schaufelten das Essen in sich hinein. Clarisse winkte ihnen von zu und wenig später nahmen Julie und Mary ihr gegenüber Platz.
„Wisst ihr was?", quietschte Clarisse. Julie schüttelte den Kopf, während Mary ihre Freundin nur fragend ansah. „James hat mir eben zugezwinkert!" Clarisse quietschte erneut und begann, auf ihrem Platz herumzuzappeln.
„Cool", bemerkte Mary kurz auch wenn sie sich riesig für Clarisse freute, „und Julie, hör einfach nicht hin." Sie zwinkerte letzterer zu und ließ sich dann in ein Gespräch über den besagten Potter verwickeln.
Julie hasste es. Selbst ihre Freundinnen waren ihm verfallen. Warum musste er Mädchen auch nur anziehen wie Schweiß die Fliegen? Sie würde noch weitere Punkte auf ihre Liste setzen können. Allein diese paar Stunden hatten ihr noch mehr klar gemacht. Wie viele Punkte es wohl in ein paar Wochen sein würden?
Der Unterricht war vorbei und Julie konnte sich endlich vollkommen ihren Freundinnen zuwenden. Doch auch das sollte nicht ungestört bleiben, denn Max und James stürmten den Gemeinschaftsraum und verkündeten, dass sie eine Party feiern würden. Ein Großteil der Leute stürmten sofort grölend zum See, denn dort sollte die Party stattfinden. Auch Clarisse stürtzte sich begeistert in die Menge und schließlich waren Mary und Julie fast allein im Raum. Mary zog fragend eine Augenbraue hoch. Julie wusste, dass auch Mary gehen wollte und zwar mit der Absicht Julie mitzuschleppen.
„Geh schon mal vor, ich komme nach", meinte sie und ehe sie ,Butterbier' sagen konnte, war Mary auch schon verschwunden. Kur sah Julie sich um und schließlich zog sie die Liste unter dem Sessel hervor.
„27. Er kennt kein Mitleid
28. Selbst meine Freundinnen sind ihm verfallen
29. Er findet immer einen Weg, um einen zu provozieren"
Julie sah auf die drei Punkte, die sie geschrieben hatte. Eigentlich dachte sie, dass es mehr sein würden. Sie hatte sich den ganzen Tag schließlich über niemand anderen aufgeregt. Enttäuschung war vielleicht nicht das richtige Wort, aber dennoch fühlte sie in diesem Moment etwas, was der Enttäuschung gefährlich nahe kam. War das nicht irgendwie krank?
Etliche Minuten hatte sie auf die Punkte gestarrt, bis sie sich endlich losreißen konnte. Es war Zeit zu feiern, es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber aufzuregen, dass man nicht genug Punkte zum Haten gefunden hatte. Julie sollte sich lieber entspannen, auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, wenn das ohne laute Musik und Alkohol gehen würde. Nicht zu vergessen könnte die Party natürlich auch Ärger geben, denn sie bezweifelte, dass Potter Professor McGonagall lieb um Erlaubnis gebeten hatte. Und eine Party am See blieb nicht lange unentdeckt.
„Los, Julie, du wirst einfach ein bisschen Spaß haben", flüsterte sie in den stillen Gemeinschaftsraum hinein. Dann stand sie auf, legte die Liste wieder unter den Sessel und verschwand durch das Portraitloch mit dem festen Vorsatz, endlich mal ihr Pflichtgefühl abzuschalten.