Kapitel 16

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Einige saftige Flüche ausstoßend raufte Liv sich das lange Haar. Zu ihren Füßen lag Kilian reglos auf dem Waldboden. Erbrochenes bedeckte seine muskulösen Arme und silbernes Blut quoll aus seiner aufgeplatzten Lippe hervor. Es war ein elender Anblick.
Wäre sie noch die gleiche Liv wie vor vier Tagen gewesen hätte sie sich umgedreht und hätte ihn zurück gelassen, ihn sterben lassen. Nach zwei weiteren Tagen hätte sie sich noch nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern können. Doch diese Zeit mit ihm und die vielen Sachen, die passiert waren, hatten sie verändert, hatten die vielen eisigen Wände, die sie über Jahre um sich herum errichtet hatte, zum schwanken gebracht. Egal wie sehr sie es wollte sie konnte ihn nicht dort liegen lassen.
Seufzend kniete sie sich nieder und tastete vorsichtig nach Kilians Puls. Sie spürte ihn deutlich an ihren kalten Fingern. Erleichtert atmete sie aus, bevor sie anfing langsam seinen Körper abzutasten. Bei einem Sturz aus so großer Höhe wäre es kein Wunder Knochenbrüche oder andere Verletzungen vorzufinden. Hätte sie doch nur mehr auf ihn geachtet, dann wäre zumindest das nicht passiert. Sie hatte gesehen, dass er Schmerzen litt, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so stark sein würden.
Beine und Arme schienen abgesehen von wenigen kleinen Kratzern unversehrt. Das war für einen möglichen Kampf schonmal kein schlechtes Zeichen. So vorsichtig wie möglich, drehte sie ihn auf den Rücken und streifte Umhang und Hemd zur Seite. Auf der breiten Brust bildete sich bereits ein riesiger Bluterguss. Das war kein gutes Zeichen mehr.
Behutsam strich sie mit ihren kalten Fingern über die Stelle. Fast im selben Moment stöhnte Kilian leicht auf. Eine Rippe war gebrochen, doch sie würde mit etwas Glück selbst wieder verheilen können.
Mit schief gelegtem Kopf schaute Liv auf ihn herab. Selbst mit schmerzverzerrtem und schweißüberströmten Gesicht sah er gut aus. Ziemlich gut, um genau zu sein! Das war ihr selbst bei ihrer ersten Begegnung nicht entgangen.
Wie von selbst bewegte sich ihre Hand auf sein Gesicht zu und strich eine braune Locke zur Seite. Eine Sekunde später hatte sie ihre Hand auch schon wieder ruckartig zurück gezogen. Idiotin! Sie war eine verdammte Idiotin! Dieser Mann dort war immer noch der ehemalige Captain der königlichen Wachen und trotz seines Verrats niemand, dem sie vertrauen konnte. Es reichte schon, dass sie wieder Schuld empfunden hatte. Ein Fehler, den sie sich schwor nicht noch einmal zu machen. Doch wenn sie Kilian nicht half, dann war es das auch mit einer möglichen Zukunft und einem sicheren Dach über dem Kopf.
Aufmerksam sah sie sich um. Nicht weit entfernt boten die Wurzeln eines umgekippten Baumes ein wenig Schutz. Das musste erst einmal reichen. Schnell sprang sie auf die Beine und packte den immer noch bewusstlosen Kilian vorsichtig unter den Armen, bevor sie ihn langsam in die Richtung des Baumes zog. Er war schwerer als erwartet und es dauerte eine Weile, bis sie die schützenden Wurzeln erreichte. Als sie sich erschöpft neben ihm auf den Waldboden sinken ließ, war die Sonne bereits untergegangen und die weißen Strahlen des Mondes blitzten blass zwischen den hohen Tannen hervor.
Gedankenverloren löste sie ihr Schwert von ihrem Gürtel und wog es in den Händen. Die Figur des Falken am silbernen Griff leuchtete im Licht des Mondes. Sie erinnerte sich noch genau daran wie sie das Schwert mit vierzehn Jahren einem der Händler in Vasilias abgekauft hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie die kalten Dörfer für längere Zeit verlassen hatte, doch damals war es, um zu lernen und um ein bisschen Geld von den wohlhabenderen Bürgern der Stadt mitgehen zu lassen. Als sie erfuhr, dass sie den Großteil des gestohlenen Geldes für das Schwert ausgegeben hatte, hatte Liv einige Schläge kassiert. Heute erinnerte nur noch eine lange Narbe auf ihrem Rücken, die die Peitsche hinterlassen hatte, an die Schmerzen, die sie wortlos ertragen hatte in dem Glauben sie hätte es verdient. Egal was ihr angetan wurde, sie hatte es hingenommen, hatte die Schmerzen sogar willkommen geheißen. All die Schmerzen, die ihr zugefügt wurden, um ihr zu zeigen, was passierte, wenn man etwas tat, was nicht geplant war, wenn man naiv war oder wenn man so etwas wie Gefühle für jemanden hatte. Nicht, dass es je wirklich so gewesen war.
Der Ruf einer Eule riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie aufschauen. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass sie kaum noch weiter als zwei Baumreihen etwas erkennen konnte. Sie hoffte inständig, dass nicht irgendeins der Nachttiere im umliegenden Wald plötzlichen Heißhunger bekommen würde.
Entschieden zog sie einen ihrer Dolche aus ihrem Stiefel hervor und legte ihn Kilian in die offene Handfläche. Sicher war sicher! Dann rutschte sie näher an die Wurzel heran und lehnte ihren Kopf gegen das feuchte Holz, das Schwert fest in der Hand. Und wieder würde eine Nacht vergehen, ohne dass sie es sich leisten konnte ein Auge zu zumachen.

~

Das Erste, was Kilian hörte, war der Gesang eines Vogels, dann spürte er den harten Waldboden unter sich, dann den kühlen Wind, der sanft über sein Gesicht strich, dann der harte Griff eines Dolches in seiner schlaffen Hand und dann plötzlich der brüllende Schmerz an seinen Rippen. Er stöhnte und öffnete die Augen. Sonnenstrahlen schienen ihm entgegen und erst nach einigem Blinzeln konnte er die Äste einiger Tannen über sich erkennen. Vorsichtig tastete er nach seinen Rippen, die immer noch höllisch schmerzten und versuchte sich langsam aufzurichten.
„Liegen bleiben oder du brichst dir gleich noch die zweite Rippe!" ,durchschnitt eine Stimme die Geräusche des Waldes.
Er ignorierte sie und stützte sich stattdessen stöhnend auf die Ellenbogen. Großer Fehler! Fluchend fiel er zurück auf den Waldboden.
„Ich habe dich gewarnt!" ,fuhr die Stimme sichtlich genervt fort.
Fragend hob Kilian den Kopf und schaute zu Liv, die mit dem Schwert in der Hand auf ihn zukam und kopfschüttelnd die Augen verdrehte.
Ein leichtes Schmunzeln erschien, trotz des Schmerzes, auf seinen Lippen, als er amüsiert feststellte: „Ich hoffe ich bin nicht tot, sonst wäre ich nämlich nicht wirklich gerne in dieser Lage." Er kassierte ein weiteres Augendrehen von Liv, bevor sie ihm eine lederne Flasche unter die Nase hielt.
„Hier! Trink das und halt den Mund!" ,verlangte sie ernst.
Er nahm die Flasche dankend entgegen und trank sie gierig bis auf den letzten Tropfen aus. Liv hatte sich neben ihm auf dem Waldboden niedergelassen und musterte ihn mit vor der Brust verschränkten Armen.
„Schön, dass wir jetzt kein Wasser mehr übrig haben. Dann müssen wir spätestens zur Nacht aufbrechen" ,sagte sie mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen angesichts seines überraschten Blickes.
„Sag mir, dass das ein Scherz war" ,verlangte er zögernd.
Liv schüttelte ernst den Kopf: „Keines Wegs! Das war das letzte an Wasser, was noch aus dem Gasthaus übrig geblieben ist und so weit ich es gesehen habe gibt es hier weit und breit keinen See oder Bach."
Kilian stöhnte und rieb sich mit den Händen über die Stirn. „Ich werde nie wieder auch nur versuchen zu fliegen" ,sagte er mehr zu sich selbst, als zu Liv, die bei seinen Worten leise schnaubte.
Schmunzelnd musterte er sie. „Um ehrlich zu sein bin ich überrascht, dass du überhaupt noch hier bist" ,stellte er mit hochgezogenen Brauen fest.
Liv erwiderte seinen Blick und ein grausames Grinsen erschien auf ihren Lippen. „Um ehrlich zu sein, war ich mir da selber auch nicht ganz so sicher" ,sagte sie beinah unhörbar.
Er runzelte die Stirn und suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen, was sie dazu gebracht hatte bei ihm zu bleiben, doch sie wendete sich ab und ihr Blick glitt in die Ferne.
Zu gern hätte Kilian gewusst, was sie jetzt dachte, doch stattdessen fragte er: „Wo sind wir eigentlich?"
Auf dem Flug am gestrigen Tag hatte er nicht wirklich viel mitbekommen. Er hatte noch nicht mal wirklich einen Gedanken daran verschwendet, wohin Liv ihn geführt hatte. Diese zuckte ohne ihn anzusehen mit den Schultern.
„Ich schätze irgendwo nördlich von Amyr." ,sagte sie gleichgültig.
Nördlich von Amyr also und da sie sich augenscheinlich in einem dichten Wald befanden, mussten sie sich wohl irgendwo im Wald von Amyr befinden. Kilian schluckte leicht, als ihm klar wurde, dass sie wenn sie Wasser haben wollten, sich wohl oder übel in die große Stadt begeben mussten, denn verwandeln würde er sich so schnell nicht mehr.
„Woher wusstest du eigentlich, dass Zayn in der Nähe war?" ,wechselte er das Thema.
Liv schaute ihn nicht an, während sie in knappen Worten erzählte, wie sie die Soldaten entdeckt und belauscht hatte. „Zayn weiß, dass wir zusammen fliehen und ich bin mir sicher, dass er auch seine Schlüsse ziehen wird, wenn er herausfindet, dass wir diejenigen waren, die in diesem Zimmer übernachtet haben" ,endete sie ihre Erzählung.
Sie versuchte zu verbergen wie sehr sie diese Tatsache beunruhigte, doch Kilian hatte mittlerweile gelernt zumindest hinter die erste Mauer zu blicken, die sie um sich errichtet hatte. Sie war erschöpft, hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen und irgendetwas war da noch, was sie nicht aussprach und was doch bei jedem ihrer Worte zwischen ihnen in der Luft hing.
„Wir werden es schon bis zum Schattenwald schaffen und sobald wir den Fluss überquert haben, werden wir auch keine Probleme mehr mit der Kälte bekommen" ,sagte Kilian zuversichtlich, doch Liv hatte bereits den Blick abgewandt und ignorierte seine Worte.
Einen Moment sagte niemand etwas. Nur die leisen Waldgeräusche erfüllten die Stille.
„Wir müssen heute noch nach Amyr" ,brach Kilian irgendwann das Schweigen.
Livs Blick huschte kurz zu seinen Rippen, doch sie nickte zustimmend. Sie brauchten Wasser und er brauchte einen Heiler, sonst hatten sie keine Chance ungesehen über die kahle Ebene zu gelangen.
In einer fließenden Bewegung richtete Liv sich auf und schaute abwartend auf ihn hinunter. Sie machte keine Anstalten ihm zu helfen und kein einziger Funke an Mitleid lag in ihren sturmgrauen Augen, während Kilian sich stöhnend und mit einer Hand auf seine Rippe gepresst langsam aufrichtete.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now