Kapitel 41

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„Wir sind noch nicht fertig miteinander. Ich werde wiederkommen, nachdem ich heute Abend mit der kleinen Gestaltwandlerin gevögelt habe" ,hallten Zayns Worte immer noch in Livs Kopf, als die Soldaten und der König schon längst gegangen waren.
Liv hörte die beiden Wachen vor der dicken eisernen Tür leise miteinander reden, während sie ihre zitternden Hände anstarrte und versuchte ihre Gefühle zu unterdrücken. Noch vor wenigen Wochen war es ihr leicht gefallen in ihrem Inneren dauerhaft kalt und ruhig zu sein. Sie hatte getötet, gestohlen und getrunken und es hatte ihr nichts ausgemacht. Es war ihr gleichgültig gewesen. Damals hatte sie jedoch auch nicht in einer Zelle gesessen. Sie war frei gewesen und das war das Einzige, was immer für sie gezählt hatte. Freiheit!
Das Licht einer Fackel, das unter der Tür hindurch schien beleuchtete ihre von Schürfwunden und Schnitten übersäten Beine, die sie an ihre Brust gezogen hatte. In einem ihrer Stiefel klaffte ein Loch.
Ihre Hände zitterten immer noch. Verbissen ballte Liv sie zu Fäusten, streckte sie wieder. Die Ketten an den eisernen Fesseln an ihren Händen klirrten bei jeder Bewegung. Sie schob ihre Füße ein Stück nach vorne. Wieder das unbarmherzige Klirren.
Mit zitternder Atmung versuchte Liv die aufsteigende Panik zu unterdrücken, die Hoffnungslosigkeit. Sie würde nicht aus dem Palast entkommen können. Sie war geschwächt, erschöpft und ihrer Kräfte beraubt. Weder Fiona noch sich selbst würde sie retten können. Es war vorbei!
Schnell schluckte Liv die Tränen hinunter, die in ihren Augen brannten. Wieder das Klirren und das kalte Metall, das kurz über ihren Hals strich. Es war vorbei! Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr wegrennen, nicht mehr kämpfen. Sie konnte nicht einmal mehr Fiona vor Zayn und dem König beschützen. Es war vorbei!
Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle hervor, gefolgt von den unterdrückten Tränen, die anfingen ihre Wangen hinunter zu strömen. Es war vorbei! Mit ihren zitternden Händen griff Liv verzweifelt nach dem Reif an ihrem Hals und zog daran. Sie spürte, wie sich die Nadeln in ihrer Haut bewegten und wie einige Tropfen Blut ihren Nacken hinunter liefen, doch der Reifen bewegte sich kein Stück.
Mit einem weiteren unterdrückten Schluchzen riss Liv an den Ketten an Füßen und Händen, während immer mehr Tränen ihre Wangen hinunter liefen. Die Haut an ihren Hand- und Fußknöcheln rötete sich und es entstanden weitere Schürfwunden, doch die Fesseln bewegten sich nicht. Sie konnte nicht entkommen! Sie würde nicht entkommen!
Wäre Fiona nicht gewesen, hätte Liv sich verwandelt und sich von dem Reifen erwürgen lassen, doch etwas hatte sich in den letzten Wochen ihres Lebens geändert. Sie war nicht mehr allein. Es gab Menschen, die auf sie zählten, Menschen, die auf sie gezählt hatten.
Die haselnussbraunen Augen von Kilian schossen ihr durch den Kopf, wie sie leuchteten, wenn er lachte, wie sie funkelten, wenn er wütend auf sie war. Liv vermisste ihn. Sie vermisste ihn mehr, als sie ausdrücken konnte. Und obwohl sie wollte, dass er in Sicherheit war, dass er sie vergaß und ein neues Leben begann, wünschte Liv sich, dass er bei ihr wäre. Sie wünschte sich, dass er die Tür der Zelle aufstoßen würde und sie erneut gemeinsam fliehen würden. Sie wünschte sich, dass er sie in die Arme nahm und ihr sagte, dass er ihr verzieh für das, was sie ihm angetan hatte. Liv wusste, dass er ihr niemals verzeihen würde, nicht dafür, dass sie ihn von sich gestoßen hatte, nicht dafür, dass sie ihn verlassen hatte, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten.
Und dann war da noch Fionas Gesicht. Ihre blauen besorgten Augen, als sie Liv neben dem König entdeckt hatte. Die Verzweiflung und Angst in ihrem Blick, als sie in dem Raum all ihrer Qualen stand. Die Hoffnung, die hinter jedem Wort, hinter jedem Blick, hinter jeder Bewegung von ihr steckte. Die Hoffnung auf die Freiheit und der Glaube an das Gute.
Liv hatte beides verloren. Das Eine vor 13 Jahren im Staub und Blut der Arena, das Andere vor wenigen Momenten in der dunklen Zelle tief unter dem Palast.
Du musst nicht glauben, Liv. Das tut sie für dich. Du musst bloß für das kämpfen, was es dir Wert ist zu kämpfen. Mache niemals den gleichen Fehler wie ich und gebe auf ,hörte Liv plötzlich eine warme vertraute Stimme sagen. Die Ketten klirrten laut, als sie abrupt aufstand und kampfbereit in dem dunklen Raum umhersah, doch da war niemand.
In diesem Moment schlug jemand von Außen gegen die eiserne Tür. „Denk nicht mal dran zu fliehen, Gestaltwandlerin! Bleib sitzen oder wir holen den Lord!" ,rief einer der Wachen laut.
Seine Stimme triefte nur so vor unterdrückter Angst und Liv wusste nicht, ob es an der seltsamen Stimme oder an etwas anderem lag, doch ein grausames Grinsen erschien auf ihren Lippen. „Klappe oder ich reiße dir in der Gestalt des Teufels das Herz aus der Brust" ,rief sie laut zurück.
Ein zögerndes Lachen drang durch die dicke Tür hindurch, bevor der Mann antwortete: „Du kannst dich nicht verwandeln, ohne zu riskieren dich selbst zu töten." Wieder konnte Liv die Angst hinter den Worten hören. Menschen, die Angst zeigten, waren diejenigen, die man am leichtesten manipulieren konnte.
„Willst du, dass ich es versuche?!" ,brüllte sie also zurück. Keiner der Wachen antwortete und sie beschwerten sich auch nicht noch einmal, als Liv sich mit laut klirrenden Ketten an der Wand zurück auf den kalten Steinboden setzte.
Sie brauchte nicht an eine Flucht zu glauben. Sie brauchte nicht daran zu glauben, dass sie jemals wieder das Tageslicht sehen würde. Sie brauchte nur zu kämpfen! Ob mit Krallen, Klingen oder Zähnen, sie würde kämpfen und wenn sie dabei drauf ging.
Sie war eine Mörderin, eine Diebin und eine Königin und sie würde nicht aufhören zu kämpfen!

~

Fiona hasste das silberne wunderschöne Ballkleid, in dem sie steckte. Sie hasste die Adligen, die mit Gläsern, gefüllt mit teurem Wein und in prunkvoller Kleidung in dem großen Saal standen und sich angeregt unterhielten. Sie hasste die Blicke, die auf ihr lasteten. Doch am meisten hasste sie den Mann neben ihr.
Zayns Hand lag kalt und schwer auf ihrem Arm und obwohl der Stoff ihres Kleides ihre Haut schützte, zitterte sie unter seiner Berührung wie Espenlaub. Er trug einen silbernen Anzug, passend zu ihrem Kleid, seine blonden langen Haare lagen ordentlich auf seinen Schultern und seine eiskalten blauen Augen wanderten von Person zu Person, bis alle den Kopf vor ihm gesenkt hatten. Erst dann erschien ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht und er führte Fiona durch den Saal auf das Podest zu, wo der leere silberne Thron des Königs stand.
Fiona wusste nicht, wo der König war. Das einzige, was sie wusste war, dass er Crow bei sich behalten hatte, denn die schwarzhaarige Dienerin war nicht mehr in Fionas Gemächern aufgetaucht, bis Zayn sie abgeholt hatte. Wie sehr wünschte Fiona sich, dass Crow an ihrer Seite stand und ihr ein aufmunterndes Lächeln zuwarf, dass sie ihr sagte, dass alles gut werden würde. Nichts war mehr gut! Allein der Gedanke an Liv, die tief unter Fiona in einer Zelle hockte, hilflos und ohne Kräfte, reichte aus, dass sie beinah über ihre eigenen Füße gestolpert wäre.
„Da kann es ja jemand gar nicht mehr erwarten offiziell eine Prinzessin zu werden" ,murmelte Zayn verächtlich, während er dafür sorgte, dass sie nicht fiel.
Prinzessin? Zukünftige Königin? Fiona verstand es nicht. Die Gedanken des Königs waren so unlesbar für sie wie die Wörter in dem Buch aus der Bibliothek.
Sie hasste ihre zitternde Stimme, als sie leise fragte: „Was soll das heißen? Ich... ich bin keine Prinzessin."
Zayns Blick verdunkelte sich, als er sich von ihr abwandte und beinah unhörbar antwortete, sodass nur sie es hören konnte: „Glaub mir, Gestaltwandlerin. Mir wäre es auch lieber du würdest in den Kerkern verrecken, anstatt an meiner Seite zu herrschen."
Fiona schauderte bei seinen Worten. Nicht nur, weil er seinen Hass gegenüber ihresgleichen offen zugab, sondern auch weil seine Worte die des Königs bestätigten. Sie sollte Königin werden. Eine Gestaltwandlerin Königin eines Volkes, das allein ihr Existieren verabscheute.
Als sie am Podest angekommen waren, winkte Zayn einen Diener mit einem Tablett mit Weingläsern zu sich. Der Junge verbeugte sich tief, bevor er erst Zayn und dann Fiona ein Glas reichte. Auffällige grüne Augen rissen Fiona aus ihren Gedanken und als ein unauffälliges Lächeln über das Gesicht des Dieners huschte, musste sie ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken. Robin verneigte sich erneut vor Zayn und mit einem gemurmelten Mylord verschwand er zwischen den Adligen. Am liebsten wäre Fiona ihm gefolgt und hätte ihn umarmt. Er war noch immer im Schloss. Er wollte ihr noch immer helfen.
Die Hoffnung, die in Wellen durch sie hindurchströmte, konnte selbst der König nicht schwächen, der nun am anderen Ende des Saals in der riesigen goldenen Flügeltür erschien und gefolgt von zwei seiner Wachen langsam auf sie zu ging. Die Menschen im Saal waren verstummt und alle verneigten sich ehrfürchtig vor dem König, der sie nicht mal eines Blickes würdigte.
Er trug seinen üblichen silbernen Umhang, die prunkvolle Kleidung und die imposante Krone auf dem Kopf. An seiner Seite hing ein glänzendes Schwert, dessen Knauf mit der Figur eines silbernen Falken geschmückt war. Fiona wusste sofort, dass es Livs Schwert war und eine Woge der Wut durchfuhr sie. Trotzdem senkte sie, genauso wie Zayn, den Kopf, bis der König sich lässig auf seinen Thron gesetzt hatte und mit einer Handbewegung bedeutete, dass sie sich wieder erheben durften.
Eine Dienerin bot ihm mit gesenktem Blick ebenfalls einen Wein an, doch der König ignorierte sie so lange, bis sie zitternd die Flucht ergriff. Fiona wollte ihr noch aufmunternd zu lächeln, doch da war sie schon zwischen den Menschen verschwunden.
In diesem Moment erhob sich der König und schaute über die Menge hinweg. Sofort fiel Fiona der Unterschied zwischen Zayn und dem König auf. Während Zayn jeden im Saal genau und bedrohlich musterte, als wäre er bereit jeden einzelnen zu töten, schaute der König niemanden genau an, als würde ihm all das nichts bedeuten.
Fiona hatte keine Zeit noch länger darüber nachzudenken, denn der König erhob seine Stimme mühelos über den stummen Saal: „Wir sind heute nicht nur versammelt, um den endgültigen Sieg über die Gestaltwandler mit der Gefangenschaft der Königin von Eletheria zu feiern. Wir sind außerdem hier, um die Zukunft dieses Reiches zu sichern. Die Zukunft der Menschen!"
Die versammelten Menschen klatschten und Fiona hätte am liebsten laut los gelacht. Ein Gestaltwandler sicherte die Zukunft der Menschen. Wie ironisch die Welt doch geworden war.
Der König hob eine Hand und der Saal verstummte wieder. Es war beinah erschreckend, wie stark er jeden einzelnen dieser Menschen unter seiner Kontrolle hatte.
Feierlich deutete er mit der Hand in ihre Richtung, bevor er triumphierend sagte: „Ich möchte hiermit den zukünftigen König und seine Königin verkünden. Zayn von Amyr und Fiona Callen!"

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now