Kapitel 43

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Kilian war in der Dunkelheit beinah unsichtbar, während er durch die Gassen von Vasilias glitt und den hellen Kegeln der Laternen auswich. Jetzt, wo er wieder sein eigenes Gesicht trug und keine Chance hatte sich zu verwandeln, musste er um so vorsichtiger sein. Ein falscher Schritt und er würde, wenn der König in einer guten Stimmung war, in einem Kerker neben Liv verrotten. Unbemerkt hielt Kilian nach den rötlichen Haaren seiner Mutter Ausschau. Sie lehnte ihm gegenüber im Schatten einer Hauswand und beobachtete die gefrorene Straße.
Sie waren fast zwei Tage nach dem König in Vasilias angekommen, zwei Tage, in denen Liv bereits hätte getötet werden können. Kilian wusste nicht, ob sie noch lebte. Trotz der Erschöpfung von der langen Reise, hatten er und seine Mutter direkt damit angefangen Informationen zu sammeln. Als Kilian am Morgen einer Gruppe Soldaten gelauscht hatte, die über den feierlichen Einmarsch des Königs redeten, wäre er beinah eigenständig zum Schloss marschiert, um seinen Dolch in das verräterische Herz des Königs zu rammen. Seit dem Einmarsch sollte niemand mehr Liv gesehen haben und hätte Kilian nicht gewusst, dass der König immer gerne ein Publikum hatte, hätte er gedacht, dass sie bereits tot wäre.
Eines stand auf jeden Fall fest: Sie mussten schnell handeln und schnell Entscheidungen treffen und Kilians erste Entscheidung stand fest, als er vor ungefähr einer Stunde einen Jungen beobachtete, der aus einem Hinterausgang des Palastes trat und auf einem Paar Schlittschuhen zwischen den Menschenmengen auf den Straßen verschwand, nicht ohne im Vorbeigehen zwei Geldbeutel vom Gürtel eines Kaufmanns zu entwenden. Kilian hatte ihn mehrmals in den vollen Straßen von Vasilias verloren, doch nachdem er die Richtung ausgemacht hatte, in die der Junge fuhr, hatte er ein paar Abkürzungen genommen. Jetzt stand er am Rand einer dunklen beinah verlassenen Gasse und wartete gemeinsam mit seiner Mutter darauf, dass der Junge auftauchte.
Als Kilian das Kratzen von Kufen auf Eis hörte, zog er sich die Kapuze noch ein wenig tiefer ins Gesicht. Dann nickte er seiner Mutter zu, die auf die Straße trat und in die Richtung des Geräusches ging. In dem Moment erschien der Junge am anderen Ende der Gasse und glitt mit rasendem Tempo auf sie zu.
Er hörte, wie seine Mutter rief: „Entschuldigung! Könntest du einmal stehen bleiben?" Misstrauen und Überraschung blitzten in den Augen des Jungen auf, doch er bremste ab, genau auf der Höhe von Kilian. Jetzt oder nie!
Mit schnellen Schritten rannte Kilian auf den Jungen zu, zog im Lauf einen Dolch von seinem Gürtel und hielt ihn dem Jungen an den entblößten Hals. Dann griff er mit einem Arm um den dürren Körper und zog ihn in die dunkle Gasse.
„An deiner Stelle wäre ich jetzt lieber still" ,murmelte er am Ohr des Jungen, der angefangen hatte um sich zu treten. Kilian fluchte, als eine der Kufen in sein Schienenbein schnitt, doch er ließ nicht los.
Seine Mutter schlüpfte nun ebenfalls in die Gasse und schaute Kilian verurteilend an. „Lass ihn los! Er hat dir nichts getan!" ,zischte sie.
Kilian hätte beinah gelacht. Seine Mutter kannte das Leben auf den Straßen nicht, die Brutalität, die gefordert war, um zu überleben.
„Wenn ich ihn los lasse, ist er gleich über alle Berge" ,antwortete er möglichst ruhig.
Der Junge in seinem Arm lachte leicht und sagte amüsiert: „Da hat er nicht ganz unrecht."
Kilian konnte sein Gesicht nicht sehen, doch er wusste, dass der Junge grinste. Merkwürdig, angesichts der Lage, in der er sich befand. Es erinnerte ihn an die erste Begegnung mit Liv. Sie war damals genauso ruhig und beinah belustigt mit der Situation umgegangen, als wäre es ein Spiel.
Er zwang sich wieder in die Realität zurück und beobachtete, wie die Stirn seiner Mutter immer noch in Falten gelegt war, doch sie sagte nichts mehr. Nun war es an ihm zu reden.
„Wie heißt du?" ,fragte er verlangend.
Der Junge lachte wieder, bevor er antwortete: „Robin. Und du?"
Kilian ignorierte die Gegenfrage und fragte stattdessen weiter: „Als was arbeitest du im Palast?"
Robin zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Als Küchenhilfe" ,sagte er, „Wieso fragst du?"
Kilian hatte keine Lust mehr um den heißen Brei herum zu reden, also fiel er direkt mit der Tür ins Haus: „Wir suchen einen Weg in den Palast bei Nacht. Wir brauchen jemanden, der in der Lage ist die richtigen Schlüssel von einer Wache zu stehlen und uns die Hintertür der Bediensteten zu öffnen." Die Hintertür der Bediensteten war die Einzige, die in der Nacht nur verschlossen und nicht bewacht war und somit die einzige Möglichkeit unbemerkt in den Palast zu kommen.
Robin überlegte einen Moment, bevor er fragte: „Wieso wollt ihr in den Palast?"
Kilian wusste das diese Frage kommen würde und die Lüge lag ihm bereits auf der Zunge, als seine Mutter ihm zuvor kam: „Wir wollen jemanden aus den Kerkern des Königs befreien, jemand... wichtiges."
Kilian fluchte innerlich und warf seiner Mutter einen warnenden Blick zu, doch sie sah nur Robin an, der noch nachdenklicher geworden war. Das war nicht gut! Er konnte nun leicht eins und eins zusammenzählen und als Robin den Mund öffnete, um etwas zu sagen, wusste Kilian bereits, was gleich passieren würde.
„Ihr wollt die Gestaltwandlerkönigin aus den Kerkern befreien" ,stellte er fest und mit einem Kopfnicken nach hinten in Kilians Richtung fügte er hinzu, „und du scheinst den Palast zu kennen. Wenn ich nicht denken würde, dass der Captain der königlichen Wachen schlauer wäre, als in Vasilias aufzutauchen, um erneut die gleiche Gestaltwandlerin zu befreien, würde ich glatt denken, dass du es bist. Kilian Odair oder nicht?"
Kilian verspannte sich beim Klang seines Namens und fluchte erneut, diesmal laut. Seine Mutter schaute ihn besorgt an und er atmete einmal tief ein, bevor er Robin los ließ, ihn stattdessen gegen die Wand drückte und nun vor ihm stehend seine Kapuze abzog.
„Also hilfst du uns?" ,fragte er, während er das triumphierende Grinsen beobachtete, das der Junge auf den Lippen trug.
„Unter einer Bedingung" ,sagte dieser plötzlich wieder ernst, „Ihr befreit eine weitere Person aus dem Palast und sorgt dafür, dass sie in Sicherheit gebracht wird."
Damit hatte Kilian nicht gerechnet und für einen kurzen Moment war er sprachlos. „Wer?" ,fragte seine Mutter stattdessen.
Robin schaute ihn direkt an, als er leise sagte: „Ich denke du kennst sie Captain. Sie ist schon eine lange Zeit im Palast gefangen und hat das gleiche Blut, dass auch durch die Adern deiner Gestaltwandlerin fließt."
Kilian riss die Augen auf. „Fiona!" ,sagte er mehr zu sich selbst, doch Robin nickte zustimmend. Sie war tatsächlich am Leben. Aber wie konnte der Junge von ihr wissen, wenn sie in den Kerkern... „Wie hast du mit ihr Kontakt aufgenommen?" ,fragte Kilian, während er Robin los ließ und anfing in der Gasse auf und ab zu laufen. Seine Mutter kannte Fiona nicht, doch statt nachzufragen, schaute sie bloß neugierig zwischen Robin und ihm hin und her.
Der Junge rieb sich über den Hals, wo vor wenigen Sekunden noch Kilians Dolch gelegen hatte, während er antwortete: „Sie hat mit mir Kontakt aufgenommen und mich um Hilfe gebeten. Von ihr weiß ich auch, dass der König..."
Robin zögerte. Kilian konnte seinen Satz beenden, doch er tat es nicht. Er ließ den Jungen wissen, dass dieser zu viel gesagt hatte und schwieg erwartungsvoll.
„Gebt mir einen Grund, warum ich euch vertrauen kann" ,verlangte Robin.
Kilian grinste wissend. „Gib mir einen Grund, warum ich dir vertrauen kann" ,antwortete er mit schief gelegtem Kopf und er beobachtete wie Robin die Zähne zusammen biss.
Seine Mutter war diejenige, die das Schweigen brach: „So kommen wir doch nicht weiter, Kilian. Er ist doch bloß ein Junge. Was kann er schon großes mit diesen Informationen ausrichten?"
Vieles! Erpressung, Gefangenschaft, Tod... Die Jungen und Mädchen, die seine Mutter noch als Kinder sah, waren es schon lange nicht mehr, konnten es unter der Herrschaft des Königs nicht sein. Fiona und Robin waren der lebende Beweis dafür. Da war der unschuldige Blick, den Robin ihm zu warf, schon fast lächerlich.
Kilian wägte ab, doch schließlich knickte er unter dem Blick seiner Mutter ein und zog seine Hose ein Stück hoch, sodass Robin die leichte Schnittwunde sehen konnte, die er ihm zugefügt hatte. Sobald der Junge das silberne Blut, das an seiner Haut klebte, gesehen hatte, ließ Kilian das Hosenbein wieder nach unten fallen und schaute Robin, der ihn mit weit aufgerissenen Augen musterte, eingehend an.
„Wie?" ,fragte Robin leise, doch Kilian hatte keine Zeit, um ihm diese Frage zu beantworten. Stattdessen erklärte er so leise, dass nur Robin und seine Mutter es hören konnten: „Wir wissen, dass der König ein Gestaltwandler ist."
Robin wirkte noch überraschter als zuvor, doch Kilian fuhr einfach fort: „Wir befreien Liv und Fiona, wenn du dafür sorgst, dass wir das Schloss an der Hintertür der Bediensteten betreten und verlassen können. Ich werde Fiona in Sicherheit bringen, doch wenn du in der Stadt bleibst, kann ich nicht auch noch für deine Sicherheit garantieren."
Robin nickte entschieden. „Ich werde deine Hilfe nicht brauchen. Ich weiß, wie ich unbemerkt bleiben kann und ich habe nicht vor die Kinder in dieser Stadt verhungern zu lassen" ,sagte er mit einer Entschlossenheit in der Stimme, die Kilian nicht von ihm erwartet hatte.
Er hielt dem Jungen die Hand hin. „Dann ist es abgemacht! Ich schlage morgen Nacht vor. Je schneller, desto besser" ,sagte er abschließend.
Robin ergriff seine Hand kurz und wollte schon gehen, als er sich noch einmal zu ihnen umdrehte. „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, Captain, aber der König hat Fiona zur zukünftigen Königin an Zayns Seite gemacht. Ich weiß, wo ihre Gemächer sind. Ich werde dafür sorgen, dass sie in der Nähe des Eingangs zu den Kerkern auf euch wartet" ,sagte er, bevor er um die Ecke bog und über die gefrorene Straße davon glitt.
Kilians Gedanken arbeiteten. Wieso sollte der König Fiona zu einer Prinzessin machen? Vor allen Dingen, wenn sie wusste, dass er ein Gestaltwandler war. Etwas stimmte an der ganzen Sache nicht und Kilian hatte das drängende Gefühl, dass er etwas übersah.
Seine Mutter trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Er scheint ein guter Junge zu sein, wenn er diesem Mädchen hilft" ,sagte sie leise.
Kilian schaute zu ihr herunter. „Fiona ist eine Gestaltwandlerin, die zur Zeit meiner Flucht in den Kerkern des Königs an der Schwelle des Todes stand. Ich habe sie nicht gerettet" ,murmelte er leise, während die Schuld ihn ertränkte.
Er konnte seiner Mutter nicht ins Gesicht sehen, als er ernst sagte: „Ich folge dem Jungen noch ein Stück. Wir treffen uns am vereinbartem Ort." Eine überfüllte Taverne am Rande der Stadt.
Ohne einen Blick zurück verschwand Kilian wieder in den Schatten der Häuserwände und beeilte sich Robin einzuholen.

Als Kilian den Jungen fand, bemühte dieser sich gerade durch ein kleines Loch in dem hohen Stacheldrahtzaun zu kriechen, der das Armenviertel umschloss. Fiona hatte ihn also nicht grundlos ausgewählt, um um Hilfe zu bitten.
Kilian fragte sich, wen Robin verloren hatte. Eltern? Geschwister? Der Junge tat ihm Leid. Der König hatte fast jedem etwas genommen, doch die eigene Familie zu verlieren war ein Schicksal, das viel zu viele Kinder in den Armenvierteln miteinander teilten.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now