Kapitel 34

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Drei ganze Tage und Nächte flog Liv über das Land und machte nur kurz Rast, um Wasser von einem Bach zu trinken, den sie aus der Luft gesehen hatte. Sie verwandelte sich nicht zurück, als könnte sie so die Erinnerungen unterdrücken, die immer wieder in ihr hochstiegen. Kilians enttäuschtes und wütendes Gesicht, Helenas Augen voller Mitgefühl und Trauer, die Nacht im See, ihre eigenen grausamen Worte, die immer noch in ihr widerhallten.
Liv bemerkte kaum, wie die Tage dahinzogen und wie der Schattenwald sich unter ihr lichtete und einer hügeligen Landschaft wich. Sie ignorierte die kleinen Dörfer, die ab und zu auftauchten und wieder verschwanden. Selbst ihre schmerzenden und angestrengten Flügel, sowie den Hunger, der sich in ihrem Magen festgesetzt hatte, spürte sie kaum.
Da war nur Kilians Gesicht, seine Augen, als sie sich küssten, als er mit ihr tanzte, als sie ihm ihr Schwert gegen die Brust drückte. Diese Verzweiflung, diese Sorge. Keine Angst, keine Erwartungen, doch er wusste es auch nicht. Er wusste nicht, wer sie war, was für ein Feigling sie war.
Feigling! Das Wort hallte in ihr wieder. Feigling! Und auf einmal hörte Liv ihre Stimmen. Die Stimme der alten Kriegerin, die Stimme von Helena, die Stimme von Kilian, die Stimme... ihrer Mutter. Feigling! Feigling!
Liv schüttelte den Kopf, als ihr Blickfeld sich an den Rändern schwarz verfärbte und die Landschaft unter ihr verschwamm. Sie taumelte kurz, bevor sie verbissen ihren Blick zurück zum Horizont richtete. Sie schüttelte erneut den Kopf, als sie plötzlich einen blauen Streifen am Horizont erkannte und die Schemen einer Stadt. Keine Schemen, Ruinen und der blaue Streifen war das Meer.
Mit einem Ruck war Liv zurück in der Realität, während sie konzentriert versuchte herauszufinden in welche Richtung sie geflogen war. Die Sonne hatte bereits den Abstieg in Richtung Westen begonnen und leichte orangene Fäden zogen sich über den Himmel. Wenn Westen hinter ihr lag, musste sie in Richtung Osten geflogen sein.
Angestrengt rief Liv sich die Erinnerung an Kilians Karte ins Gedächtnis. Erimos im Süden, Amyr und Vasilias im Norden und im Osten zwischen Weinbergen und dem Meer... die gefallene Hauptstadt der Gestaltwandler, Eletheria.
Ihre Flügelschläge beschleunigten sich, während die Stadt immer näher rückte und immer mehr zerfallene Gebäude am Horizont auftauchten. Liv dachte nicht daran, was sie in der Stadt erwarten würde, welche Erinnerungen dort lauerten. Irgendetwas in ihr zog sie wie magisch immer näher.
Die Weinberge unter ihr flogen an ihr vorbei, während sie auf das größte der Gebäude zuhielt, das sich hinter der Stadt an der Küste in den Himmel schraubte. Ein Schloss aus grauem Stein, überwuchert von Kletterpflanzen, bestehend aus mehreren kleinen Türmen, die teilweise kurz davor waren einzustürzen.
Liv flog weiter und das Etwas in ihr wärmte ihren Körper, während es wie Wellen durch sie hindurch strömte. Sie passierte die Stadtmauer und flog über zerfallene und überwucherte Häuser hinweg. Die meisten Dächer waren eingestürzt und die Fensterscheiben eingeschlagen. Kein Mensch, kein Tier, kein Gestaltwandler war auf den engen Straßen und Gassen zu sehen. Bis auf das Rauschen der Wellen, die an der steilen felsigen Küste barsten, war nichts zu hören.
Ein Schauer lief Liv über den Rücken, während sie weiter auf das Schloss zuhielt und hoffnungsvoll die Gassen absuchte. Nichts! Nur Trümmer und leerstehende Häuser, doch vor ihrem inneren Auge konnte sie es sehen. Familien, die durch die Gassen und über die Marktplätze schlenderten, Kinder, die lachend zwischen den bunten Ständen Verstecken spielten, Gestaltwandler, die in den verschiedensten Tiergestalten über die Dächer hinweg flogen und neben den Menschen durch die Straßen liefen. Liv hörte die lauten Stimmen der Verkäufer, die ihre Waren anpriesen und die fröhlichen Gespräche der Passanten. Ein glückliches Volk unter dem Schutz eines riesigen Schlosses.
Auf der großen Promenade, die sich am Rand der steilen Klippen entlang schlängelte, landete Liv vorsichtig. Ein Aufleuchten und sie hatte wieder ihre menschliche Gestalt angenommen. Sofort meldete sich ihr Magen laut stark zu Wort und sie spürte, wie ihre Zunge staubtrocken an ihrem Gaumen klebte. Sie brauchte Wasser und zwar dringend.
Mit schnellen Schritten hielt Liv auf einen Brunnen zu, der immer noch fröhlich vor sich hin plätscherte. Sie genoss es, wie das kalte Wasser ihre Kehle hinunterfloss und ihr verschwitztes Gesicht kühlte, während sich der Schmerz des anstrengenden Flugs in ihren Armen breit machte. Noch nie war sie so lange an einem Stück geflogen. Es würde Tage dauern, bis die Schmerzen verschwunden waren.
Die warme untergehende Sonne wärmte ihre Haut, als sie sich aufrichtete und auf das Schloss blickte, das nun direkt vor ihr aufragte. Eine breite Brücke führte zu einem riesigen offen stehendem Tor, das den Blick in einen kleinen Innenhof frei gab, von dem mehrere Türen und Tore abgingen.
Liv legte den Kopf in den Nacken, um die vielen Türme zu betrachten. Die Fenster waren eingeschlagen und die verschiedensten Pflanzen überwucherten die steinernen Wände. Blumen blühten zwischen ihnen und ließen das Schloss, wie einen vergessenen magischen Ort aus einer Legende aussehen. Es war ein beklemmendes Gefühl zu wissen, wie viele Gestaltwandler hier ihr Ende gefunden hatten, innerhalb einer Nacht, durch den Befehl eines einzigen grausamen Mannes, der einer von ihnen gewesen war.
Langsam lief Liv über die Brücke, während ihre Augen immer noch staunend und fasziniert über das riesige Gebäude wanderten. Kilian war 14 gewesen, als er zum ersten Mal nach dem Fall in der Stadt gewesen war. Hatte er auch hier gestanden? Hatte er sich gefragt, wo genau sein Vater ermordet worden war, um den König zu schützen? Hatte er sich auch die Leichen ausgemalt, die auf den Straßen verstreut gelegen haben mussten?
Liv schluckte schwer, als sie durch das große Tor trat und ein Skelett an der Mauer lehnen sah, ein Metallring um den Hals gelegt, der mit einer eisernen Kette verbunden war. Ekel stieg in ihr auf, als sie die mottenzerfressene prunkvolle Kleidung bemerkte, die den Körper des Skeletts bedeckte. Diese Person war ein Adliger gewesen.
Langsam folgte Liv mit ihrem Blick der eisernen Kette an der Mauer entlang, bis plötzlich dunkle Stiefel am Ende der Kette auftauchten. Als nächstes sah sie einen allzu bekannten silbernen Umhang, der den Körper einer Person umrahmte. Ihr Blick wanderte weiter zum Gesicht des Mannes hinauf, auf dem ein triumphierendes Grinsen lag, dass so gar nicht zu der Gestalt passte, von der es stammte.
„Ich wusste wir sehen uns wieder" ,sagte der König bedrohlich leise.
Er lehnte lässig in einem der Tore und musterte sie beinah amüsiert. Liv bewegte sich nicht. Sie starrte bloß den König an, der sich von dem Torbogen abgedrückt hatte und nun langsam zu dem Skelett an der Wand schlenderte.
Er betrachtete es abschätzig von oben bis unten, bevor er immer noch grinsend bemerkte: „Ich muss schon sagen, er hat sich gut gehalten."
Mit einem Finger schnippte der König gegen die knochige Schulter des Skeletts. Klappernd fielen die Knochen in sich zusammen und Liv zuckte schmerzlich zusammen.
Der König betrachtete den Knochenhaufen auf dem Boden, bevor er sich wieder ihr zu wandte und lächelnd sagte: „Du weißt, wer das war. Oder?"
Liv biss die Zähne zusammen, während sie sich zwang den Blick von den Knochen zu reißen und den König anzuschauen, der ihren Anblick mehr als zu genießen schien.
„Was habt ihr mit den anderen Leichen gemacht?" ,fragte sie fordernd, anstatt zu antworten.
Der König zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ins Meer geworfen, verbrannt, den Tieren im Schattenwald zum Fraß vorgeworfen,..." ,zählte er nachdenklich an seinen Fingern auf.
Liv schluckte erneut, während Bilder in ihrem Kopf erschienen, die sie beinah in die Knie gezwungen hätten. Ihre Nägel gruben sich in ihre Haut, als sie die Hände zu Fäusten ballte. Dieser Mann vor ihr hatte beinah ihr gesamtes Volk abgeschlachtet, darunter Kilians Vater und auch ihre eigene Familie, ihre Mutter.
Im nächsten Moment hatte Liv ihr Schwert aus dem Gürtel gezogen. Dann stürmte sie auf den König zu, packte ihn am Umhang, stieß ihn zu Boden, drückte ihm ihre Klinge an den Hals.
„Noch irgendwelche letzten Worte?" ,fragte sie grinsend, während sie die Überraschung in den dunklen Augen des Königs sah, die schon im nächsten Moment wieder verschwunden war.
Interessiert schielte der König auf den silbernen Falken am Griff ihres Schwertes. „Und ich dachte immer Magie hätte keinen eigenen Willen" ,murmelte er mehr zu sich selbst. Dann blickte er sie ernst an.
„Das Schwert deines Vaters" ,erklärte er verachtend, „Es war nicht für ihn bestimmt und genauso wenig bist du würdig es zu führen."
Liv betrachtete ihn ausdruckslos, bevor sie die Klinge fester gegen seine Kehle drückte. „Ist es nicht ironisch, dass ihr genau dort sterben werdet, wo ihr ihn ermordet habt?" ,fragte sie leise.
Der König schnaubte belustigt, bevor er leise antwortete: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich es dir so einfach mache und dir ohne Hintergedanke und ohne Soldaten gegenüber trete." Sofort blickte Liv sich um, doch da waren keine Soldaten und auch kein Lord von Amyr. Der König lachte auf.
„Sie warten vor der Brücke. Sie können uns weder sehen noch hören" ,sagte er ruhig.
Jetzt war Liv diejenige, die lachte, bevor sie ihr Gewicht verlagerte, um den Hals des Königs aufzuschlitzen.
„Ich bin mir sicher eure Schreie werden sie hören" ,sagte sie wütend, „wenn ihr dafür bezahlt, was ihr ihnen allen angetan habt."
Dann hob sie die Klinge und holte aus, als der König plötzlich sagte: „Dann wird Fiona mein letztes Opfer werden."
Augenblicklich hielt Liv inne. Die Klinge schwebte über dem Hals des Königs, während sie ihn mit aufgerissenen Augen ansah.
Ungerührt fuhr der König fort: „Kurz nach deiner Flucht, habe ich sie aus den Kerkern herausgeholt, habe sie heilen lassen. Ein paar Gespräche und sie war bereit meine Verbündete zu sein. Zayn wartet nur auf den Befehl nach Vasilias zu reiten und sie weiter zu foltern, bis sie dann wohl doch ihr Ende finden wird."
Angst und Verzweiflung strömten durch Liv hindurch und rissen allen Triumph nieder, den sie eben noch verspürt hatte. Der König hatte Fiona in seiner Gewalt. Das Mädchen, dass Liv in einem dunklen Kerker zurück gelassen hatte, um zu sterben. Das Mädchen, dass an die Götter glaubte. Das Mädchen, dass an Livs und Kilians Flucht geglaubt hatte.
Liv fluchte innerlich, als sich ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht des Königs ausbreitete. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Fiona ihr etwas bedeuten würde und Liv hatte ihm mit ihren Gefühlen, die sich auf ihrem Gesicht widerspiegeln mussten, die Antwort geliefert. Sie war direkt in seine Falle getappt.
Sie wehrte sich nicht, als der König sie von sich herunter schob, gelassen aufstand und sich den Staub von der Kleidung klopfte. Liv stand ebenfalls auf. Sie wusste, dass sie für den Moment verloren hatte. Sie würde mit ihm mitgehen, in die Kerker des Schlosses von Vasilias und dann würde sie gemeinsam mit Fiona fliehen, so wie sie es mit Kilian getan hatte. Doch davor brauchte sie die Wahrheit, die vor ihr schwebte, seit der König über ihren Vater gesprochen hatte.
„Wie wäre es denn mit einer Verneigung?" ,fragte der König in diesem Moment.
Erneut lag dieses Grinsen auf seinem Gesicht, dass nicht zu ihm zu passen schien. Am liebsten hätte Liv es ihm aus dem Gesicht geschnitten, stattdessen hob sie das Kinn und musterte ihn herausfordernd.
Dann sprach sie die Worte aus, vor denen sie sich so lange gefürchtet hatte, seit sie sie in dem Brief ihrer Mutter gelesen hatte: „Mein Name ist Liv. Ich bin die rechtmäßige Königin von Eletheria und des gesamten Reichs der Gestaltwandler. Meine Mutter war Lyana von Eletheria und mein Vater Liam von Eletheria. Sie fanden beide durch euren Befehl ihr Ende. Solange ich auf meinem Land stehe, werde ich mich vor niemandem verneigen, ganz besonders nicht vor einem Verräter!"
Stille. Selbst das stetige Rauschen der Wellen schien durch ihre Worte verstummt zu sein. Ihr Herz pochte in ihren Ohren und die Worte hallten in ihr wider. Nun war es gesagt. Die Wahrheit! Die ganze verdammte Wahrheit, vor der sie so lange geflohen war. Sie würde sie niemals wieder zurück nehmen können.
Die Stimme des Königs durchschnitt die Stille, wie die Krallen eines Monsters. „Ich weiß, doch ich bin kein Verräter" ,stellte er klar.
Dann blitzte helles Licht auf und der Körper des Königs begann sich zu verändern. Aus heller Haut wurde sonnengebräunte, aus den wenigen grauen Haaren wurden dunkel braune, aus den dunklen Augen wurden sturmgraue Augen. Dann stand Kieron von Eletheria vor ihr.
„Hallo Onkel!" ,murmelte sie grinsend.
Kieron zog überrascht die Brauen hoch. „Woher weißt du es?" ,fragte er verlangend.
Liv schaute gelassen auf ihre Nägel, bevor sie sagte: „Sagen wir einfach mal, der Captain hatte ein Auge für Verräter."
Wieder blitzte für einen Moment so etwas wie Überraschung in Kierons sturmgrauen Augen auf, bevor er sich demonstrativ umsah und fragte: „Und wo ist der gute Captain jetzt?"
Die Worte schmerzten mehr, als sie zugeben wollte, doch sie ließ sich nichts anmerken. Es reichte aus, dass Kieron Fiona hatte. Wenn er auch noch Kilian in seine Gewalt bringen würde, wüsste sie nicht, was sie alles tun würde, um ihn zu retten. Doch er war weit weg in Sicherheit und er würde sein Leben weiter leben, auch ohne sie.
„Ich dachte Zayn wäre wenigstens in der Lage einen Menschen wieder einzufangen, doch wie es aussieht hat er auch in dieser Hinsicht versagt" ,sagte sie mit hochgezogenen Brauen. Ein weiterer Seitenhieb, den Kieron mit einem einfachen Lächeln abtat, bevor er einen lauten Pfiff ausstieß.
„Zayn hat seine Gründe, wieso er alle Gestaltwandler tot sehen will, genauso wie ich und selbst für dich, Königin, werden wir keine Ausnahme machen" ,sagte er verächtlich, während er sich zurück in die Gestalt des Königs verwandelte.
Liv wollte schon etwas erwidern, als sie kurz darauf einen harten Schlag gegen den Hinterkopf bekam und die Welt zur Seite kippte. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Der fliehende FalkeOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz