Kapitel 35

508 50 0
                                    

Ausdruckslos beobachtete Kilian die Regentropfen, die an der Fensterscheibe abperlten und dabei kleine Straßen hinterließen. Der Himmel draußen war grau und trist und spiegelte so ziemlich wieder, wie er sich seit drei Tagen fühlte, seit Liv gegangen war, seit sie ihm mit bloßen Händen das Herz aus der Brust gerissen hatte.
Sie war seit dem nicht zurück gekehrt und je mehr Tage verstrichen, desto mehr verschwand auch seine Hoffnung, dass sie es tun würde. Kilian wusste immer noch nicht was passiert war, wieso sie auf einmal so panisch reagiert hatte und obwohl er wusste, dass seine Mutter den Grund kannte, hatte er nicht nachgefragt.
Stattdessen hatte er sich alles mögliche ausgemalt, was er vielleicht falsch gemacht haben konnte. War es zu viel gewesen, sie zu küssen? Hätte er sich zurückhalten sollen? Selbst wenn er es in dem Moment versucht hätte, wäre er höchstwahrscheinlich gescheitert. Er sah immer noch ihr wunderschönes Gesicht vor sich, ihre leuchtenden Augen, nachdem sie ihre Angst überwunden hatte. Niemals hätte er sich zurück halten können. Es war alles zu perfekt gewesen. Fast zu schön, um wahr zu sein. Er hatte mehr als einmal von diesem Moment geträumt, von ihr in seinen Armen und dann war er aufgewacht und hatte feststellen müssen, dass das Bett neben ihm leer und kalt war.
Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Mutter war neben ihn getreten und starrte nun ebenfalls auf den nassen Hof. Ein Feuer knisterte im Kamin, auf dem sie bis gerade noch einen neuen Heiltrank gebraut hatte und der Geruch von Kräutern lag in der Luft.
„Sie wird nicht zurück kommen" ,murmelte Kilian mehr zu sich selbst.
Traurig schüttelte seine Mutter den Kopf, bevor sie mit fester Stimme antwortete: „Trotzdem solltest du die Wahrheit erfahren."
Fragend musterte er seine Mutter von der Seite, während sie so leise sagte, als dürfte selbst der Wind es draußen nicht hören: „Liv ist nicht nur irgendeine Gestaltwandlerin, Kilian. Sie ist deine Königin!" Kilians Augen weiteten sich und hätte er nicht die Wahrheit in den Augen seiner Mutter gelesen, hätte er wohl angefangen zu lachen.
Seine Mutter schaute ihn nicht an, als sie fragte: „Konnte sie sich denn nicht bei der bittersten Kälte verwandeln? Wurde sie nicht seit dem Überqueren des Flusses jedes Mal wie durch Magie geheilt, wenn sie auch nur einen Kratzer hatte? Hat sie denn nicht immer wieder die Gestalt des weißen Falken angenommen?"
Kilian schluckte schwer. Er hatte sich so sehr auf die Geheimnisse des Königs fixiert, dass er die Wahrheit, die direkt vor seinen Augen lag, nicht bemerkt hatte. Das war es, was Liv vor ihm verborgen hatte, was sie ihm nicht nur einmal beinah gesagt hätte.
„Es ändert nichts" ,antwortete er traurig. Sie war weg und sie würde nicht zurück kehren, nicht als Königin und nicht als Liv.
Seine Mutter hatte ihm eine Hand an die Wange gelegt. In ihren Augen schimmerte eine Hoffnung, die er noch nie bei ihr gesehen hatte. „Es ändert alles, Kilian" ,sagte sie eindringlich, „Sie kann unser Volk wieder vereinen. Sie kann den König besiegen. Sie kann uns Frieden bringen... Sie kann dafür sorgen, dass all die Tode nicht umsonst waren. Liam, Lyana, dein Vater... Sie alle sind gestorben, doch Liv lebt noch und wie du selbst gesagt hast, sie kämpft noch immer."
Kilian starrte seine Mutter an. Eine Träne hatte sich, während den vielen Worten, aus ihrem Augenwinkel gelöst und rollte nun ihre Wange hinunter. So viel hatte sie verloren und doch war es nicht Rache, die sie sich wünschte, sondern Frieden. Frieden für sein Volk. Frieden für ihn!
Seine Mutter wandte sich ab, als sie weiter sprach: „Von Anfang an, seit du mit ihr hier aufgetaucht bist, wusste ich es. Eine Gestaltwandlerin aus den kalten Dörfern, der Ort, an dem Lyana aufgewachsen ist. Dann noch die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, zumindest was das Aussehen betrifft. Vom Charakter kommt sie glaube ich mehr nach Liam... Vor drei Tagen habe ich sie auf ihren Titel angesprochen. Sie... hatte Angst."
Fluchend lehnte Kilian seine Stirn an die kalte Scheibe, während er mit geschlossenen Augen murmelte: „Das erklärt einiges."
Sofort spürte er die Hand seiner Mutter auf seiner Schulter. „Es tut mir Leid, Kilian. Ich... es war ein Fehler" ,sagte sie voller Reue.
Langsam hob Kilian den Kopf und wandte sich seiner Mutter zu, bevor er sagte: „Weißt du was? Es ist mir egal, dass sie meine Königin ist und dass sie vor all dem flieht. Ganz ehrlich, ich hätte wahrscheinlich nicht anders reagiert, wenn ich niemanden hätte, dem ich wirklich vertrauen könnte. Aber weißt du was? Sie war einsam und ich war es, doch in den Tagen unserer Flucht waren wir es nicht, denn wir hatten uns beide. Sie braucht mich und ich brauche sie. Und das ist das Einzige, was eine Rolle spielt."
Seine Stimme war lauter geworden als beabsichtigt und er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, während er versuchte sein klopfendes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Endlich war es raus! All die Gefühle und Gedanken, die ihm erst in den letzten Tagen klar geworden waren, als er bemerkt hatte, wie sehr er sie vermisste.
Mit drei langen Schritten durchquerte Kilian den Raum und ließ sich auf einen Stuhl fallen, während er das Gesicht in seinen Händen vergrub. Seine Gefühle schlugen wie Wellen über ihm zusammen und ein stetiges Rauschen erklang in seinen Ohren.
Leise Schritte, dann hatte sich seine Mutter vor ihn gekniet und sanft sein Kinn nach oben gehoben, sodass er gezwungen war sie anzusehen. „Liebst du sie?" ,fragte sie ernst.
Kilian starrte sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Liebst du sie?" ,wiederholte sie ihre Frage, nun eindringlicher.
Kilian antwortete nicht. Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen, doch seine Mutter kannte wohl die Wahrheit, denn sie nickte leicht und stand auf. „Dann gehen wir sie suchen" ,sagte sie entschlossen.
Überrascht starrte Kilian sie an. „Und wie zum Teufel sollen wir sie finden? Sie kann doch sonst wo sein" ,rief er aus.
Seine Mutter schaute ihn eingehend an. „Wenn du etwas willst Kilian, dann kämpfe dafür. Oder ist sie es etwa nicht Wert zu kämpfen?" ,fragte sie mit hochgezogenen Brauen.
Langsam schüttelte Kilian den Kopf. Liv war es wert. Von Anfang an hatte er für sie gekämpft und er würde es weiterhin tun.
Nachdenklich musterte Kilian seine Mutter, während er sich auf dem Stuhl nach hinten lehnte. „Du musst nicht mitkommen" ,sagte er leise. Entschlossen schüttelte sie den Kopf.
„Ich habe mir in den letzten Jahren genug Sorgen um dich gemacht. Außerdem ist Liv die erste und einzige Hoffnung, die wir kriegen werden. Ich werde nicht schon wieder tatenlos zusehen, Kilian. Ich kann kämpfen und ich werde kämpfen!" ,sagte sie ernst.
Ihre Augen hatten sich entschlossen verengt und in ihnen leuchtete erneut die Hoffnung. Selbst wenn er gewollt hätte, dass sie blieb, er hätte sie nicht überreden können. Diese Entscheidung hatte sie für sich getroffen und Kilian würde und konnte ihr nicht im Weg stehen.
Langsam stand er auf, sammelte alle Waffen ein, die er finden konnte und warf sich seinen dunklen Umhang über die Schultern. Für einen Moment schaute er nachdenklich auf das Buch herab, das Liv sich von Lucien geliehen hatte und das sie zurück gelassen hatte. Dann steckte er es ebenfalls in die Innenseite seines Umhangs. Bevor er die Hütte verließ, drehte er sich noch einmal zu seiner Mutter um, die ebenfalls Proviant, Waffen und Tränke in einer Tasche verstaute.
„Ich glaube der König weiß von Livs Titel. Er wollte uns lebend und kurz bevor wir flohen, meinte er Liv würde ihm bekannt vorkommen. Meinst du er kannte Lyana?" ,fragte Kilian nachdenklich.
Seine Mutter hielt inne, bevor sie mit gerunzelter Stirn sagte: „Gut möglich! Aber wenn der König weiß, wer sie ist, wird er alles in seiner Macht stehende tun, um sie zu finden. Wir sollten uns beeilen, wenn wir sie vor ihm einholen wollen." Kilian nickte entschlossen. Dann öffnete er die Tür und trat auf den Hof hinaus.

Kilian hasste das Fliegen und der Regen, der auf ihn hinab prasselte und ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte, half nicht gerade weiter. Die braunen Flügel des Adlers waren durchnässt und hingen schwer an seiner Seite, während er seinen Blick verbissen über das Land unter ihm schweifen ließ.
Er war voraus geflogen, um nach einem Lebenszeichen von Liv Ausschau zu halten, doch schon bald hatte er umgedreht und suchte nun den Rand des Schattenwaldes nach seiner Mutter ab, die den Weg auf ihrer braunen Stute zurücklegte. Alle anderen Tiere hatten sie, bevor sie gegangen waren, frei gelassen, denn es war klar, dass sie nicht so bald zurückkehren würden.
Sie hatten sich darauf geeinigt als erstes in Richtung Limani zu reiten. Wenn Liv den Kontinent verlassen würde, müsste sie in der belebten Hafenstadt auf ein Schiff steigen, denn den Flug übers Meer konnte selbst sie nicht schaffen.
Kilian drehte einen großen Bogen in der Luft, bevor er sich vorsichtig dem Boden näherte. Ein verlassener Pfad, dem seine Mutter folgte, führte entlang des Schattenwaldes. Er stieß ein Kreischen aus, denn zu mehr war seine Gestalt nicht fähig, sodass sie aufschaute und ihr Tempo verlangsamte. Nicht gerade elegant landete er auf dem durchnässten Boden neben ihr und verwandelte sich in seine menschliche Gestalt zurück. Sofort schaute seine Mutter sich unter ihrer Kapuze verstohlen um.
„Bei den Göttern Kilian! Die Jagd ist in vollem Gange, also sei verdammt nochmal vorsichtiger!" ,ermahnte sie ihn.
Kilian starrte auf den Weg vor sich, während er ausdruckslos antwortete: „Die nächsten Menschen sind Kilometer entfernt und die nächsten Jäger sitzen in einer Kneipe südlich von hier und genießen ihr Leben."
Er spürte den Blick seiner Mutter auf sich liegen, als sie leise fragte: „Irgendein Zeichen von ihr?"
Kilian schüttelte unter seiner Kapuze den Kopf und einige Regentropfen verfingen sich in seinen feuchten Haaren. Dann schaute er zu seiner Mutter hinauf. Sie hatte ihren Blick starr nach vorne gerichtet, doch Kilian meinte so etwas wie Unsicherheit in ihren Augen schimmern zu sehen.
„Wie geht es dir?" ,fragte er direkt.
Seine Mutter schaute ihn nicht an, als sie traurig sagte: „Seit dem Tod deines Vaters, habe ich den Hof nie verlassen. Es fühlt sich seltsam an ihn hinter mir zu lassen, als würde ich in eine Welt zurück gehen, die mich vor langer Zeit im Stich gelassen hat."
Kilian überlegte, was er darauf erwidern sollte, doch es fiel ihm nichts ein. Seine Mutter hatte ein Leben gehabt und von einem auf den anderen Tag war es ihr wieder genommen worden. Alles bis auf ihn. Kilian hatte es nicht nur einmal bereut sie immer wieder zurück zu lassen, doch plötzlich traf die Reue ihn stärker, als jemals zu vor.
„Es tut mir Leid!" ,sagte er, noch bevor er wirklich darüber nachgedacht hatte, was er überhaupt sagte. Seine Mutter schaute ihn überrascht an und er fuhr bedrückt fort: „Ich hätte dich nicht so häufig allein lassen sollen. Es... Ich kann einfach nicht still sitzen und zu gucken, wie sie mein Volk abschlachten, genauso wie sie es mit Vater getan haben. Ich konnte es noch nie."
Zu seiner Überraschung lächelte seine Mutter. „Ich weiß" ,murmelte sie, „Dein Vater konnte es auch nicht, nicht einmal, als ich ihn anflehte mit mir zu gehen. Er wollte Liam beschützen... bis auf den Tod."
Kilian schluckte. Das hatte er nicht gewusst, doch es passte in das Bild, das er von seinem Vater hatte. Ein Kämpfer durch und durch.
Und auch er würde für seine Königin kämpfen. „...bis auf den Tod." ,murmelte er beinah unhörbar.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now