Kapitel 10

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Das Kreischen eines Vogels weckte Kilian am nächsten Morgen. Verschlafen richtete er sich auf und rieb sich die Augen. Die Sonne ging gerade zwischen den Bäumen auf und ihre Strahlen tauchten die kleine Uferböschung in warmes Licht. Auf einem Ast saß ein weißer Falke und musterte ihn mit schief gelegtem Kopf.
Langsam erhob er sich und klopfte den frischen Schnee von seinem Umhang, der wohl über Nacht gefallen war. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt zu schlafen, doch irgendwann waren ihm wohl doch die Augen zugefallen. Schließlich hatte er auch mehrere Stunden ohne Schlaf hinter sich gehabt. Trotzdem! Hätten die Soldaten des Königs sie, während er geschlafen hatte, gefunden, dann wären Liv und er wahrscheinlich jetzt bereits im Schloss oder nicht mehr am leben.
Langsam ließ er seinen Blick auf den Boden neben sich wandern. Dort hatte eigentlich Liv geschlafen, doch bis auf ihr Schwert war nichts mehr von ihr zu sehen. Augenblicklich war er hellwach. Wo war sie hin?
Wachsam suchte er die Uferböschung und den umliegenden Wald ab. Er ging sogar zum Bach hinüber und spähte zwischen den dichten Bäumen auf der anderen Seite hindurch. Nichts! Langsam ließ er sich auf einem der Steine nieder und vergrub sein Gesicht in den Händen. Vielleicht hatten die Soldaten sie tatsächlich gefunden und hatten Liv mit sich genommen. Aber dann hätten sie doch auch ihn mitnehmen müssen.
Fluchend rieb er sich über die Augen. Oder Liv hatte genug von ihm gehabt und war gegangen. Schließlich war sie die ganze Zeit misstrauisch und nicht wirklich begeistert von ihm gewesen. Doch dann wäre auch alles umsonst gewesen und er hätte umsonst sein Leben für sie riskiert. Warum hatte er ihr nicht sofort die Wahrheit gesagt? Dann wäre sie wahrscheinlich noch hier.
Ein leises Klappern riss ihn aus seinen Gedanken und er schaute überrascht auf. Vor ihm im frischen Schnee saß der Falke von eben und klapperte mit seinem Schnabel.
Er hatte wieder den Kopf schief gelegt und musterte ihn aus sturmgrauen Augen interessiert. Seine Federn waren fast weißer als der Schnee und er hatte eine seiner Krallen leicht angehoben. Kilian kniff die Augen zusammen, während er den Blick des Falken herausfordernd erwiderte. Dieser schien daraufhin zu Lächeln oder zumindest blitzten seine Augen kurz amüsiert auf. Überrascht richtete Kilian sich auf. Er würde sich dem König freiwillig stellen, wenn das vor ihm ein ganz normaler Falke war.
Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich gelassen ein Stück zurück. „Da bist du ja, Liv!" ,sagte er leise.
Fast im selben Moment blitzte helles Licht vor ihm auf, sodass er schützend eine Hand über seine Augen legen musste. Dann stand Liv an der Stelle, wo eben noch der Falke gehockt hatte. Genauso den Kopf schief gelegt, während sie ihn immer noch herausfordernd angrinste.
„Nicht schlecht! Ich dachte du brauchst länger, um es herauszufinden" ,sagte sie und ihre Augen blitzten amüsiert auf.
Er erwiderte ihr Grinsen: „Da hast du mich wohl ein wenig unterschätzt."
Sie zuckte mit den Schultern. „Du sahst ziemlich verzweifelt aus. Ich würde zu gern wissen, was dir durch den Kopf gegangen ist" ,sagte sie grinsend.
Er verdrehte die Augen. „Was sollte das?" ,fragte er jetzt ein wenig ernster.
Gelassen schlenderte sie zu ihrem Schwert hinüber und hob es vom Boden auf, bevor sie sagte: „Erst wollte ich verschwinden. Dann dachte ich, ich könnte mir vielleicht erstmal anschauen, wie du reagierst, wenn du bemerkst, dass ich weg bin und dann hatte ich irgendwie Mitleid mit dir, als du so verzweifelt nach mir gesucht hast."
Überrascht hob Kilian die Brauen. „Du hattest Mitleid mit mir? Das glaubst du doch selbst nicht" ,sagte er mit einer Spur Spott in der Stimme.
Langsam kam sie wieder zu ihm hinüber. „Wer weiß. Du kannst nicht unbedingt behaupten, dass du mich kennen würdest. Genauso wenig wie ich behaupten kann, dass ich dich kenne. Also, wer bist du wirklich, Captain und wieso hast du mir geholfen?" ,fragte sie fordernd.
Er schnaubte: „Deswegen bist du also zurück gekommen. Du willst wissen, wer der Mann ist, der dir den Hintern gerettet hat."
Sie lachte laut auf. „Das letzte beruht wohl auf Gegenseitigkeit" ,erwiderte sie, bevor sie ihr Schwert in seine Richtung hielt und ernst verlangte, „und jetzt gebe mir Antworten oder ich muss es noch bereuen zurück gekommen zu sein!"
Völlig unbeeindruckt von der tödlichen Klinge, die sie ihm ins Gesicht hielt und der noch bedrohlicheren Kriegerin dahinter, seufzte er laut. Er hatte wenig Lust über seine Vergangenheit zu sprechen, doch länger konnte er einer Erklärung ihr gegenüber sowieso nicht mehr ausweichen.
Also atmete er noch einmal tief ein und fing ausdruckslos an zu erzählen: „Mein Name ist Kilian Odair, Sohn von Helena Carter und Orion Odair. Mein Vater war ein Gestaltwandler. Er war der Captain der Wachen der Königsfamilie von Eletheria und starb als ich ein Jahr alt war, als er den damaligen König mit seinem Leben beschützte. Meine Mutter konnte mit mir fliehen. Als sie mir an meinem vierzehnten Geburtstag alles erzählte, brach ich auf, um Antworten auf die Fragen zu finden, die sie mir nicht beantworten konnte. Mit achtzehn Jahren fing ich aus dem gleichen Grund als Captain am Hof des Königs an." Wut verzerrte sein Gesicht, als er die nächsten Worte sprach: „Jeden verdammten Tag musste ich mich vor dem Mann verbeugen, der meinen Vater ermordet hatte in dem Wissen, dass ich mich irgendwann rächen würde. Als ich dich dort in der Kneipe sah, sah was du bist, da beschloss ich endlich loszulassen und wo anders nach Antworten zu suchen. Ich habe dir geholfen, weil ich das Gefühl hatte, dass du genauso wie ich nach so vielen Jahren immer noch kämpfst, dich immer noch gegen den König wehrst."
Als Kilian geendet hatte, hob er langsam den Kopf. Liv stand wie erstarrt vor ihm. Das Schwert hatte sie irgendwann sinken gelassen und ihr Blick war glasig in die Ferne gerichtet.
Als sie bemerkte, dass er sie unsicher musterte, erwiderte sie seinen Blick. „Das tut mir Leid! Das was mit deinem Vater passiert ist" ,sagte sie leise.
Kilian schüttelte traurig den Kopf: „Das muss es nicht. Du kannst nichts dafür. Es war seine Entscheidung!" Liv schluckte hörbar. Dann nickte sie und das glasige Schimmern in ihren Augen war augenblicklich verschwunden.
„Also bist du Mensch oder Gestaltwandler?" ,fragte sie nach einer kurzen Zeit des Schweigens, nun wieder mit ihrem herablassenden Grinsen auf den Lippen.
Kilian spürte wie seine Mundwinkel ebenfalls nach oben wanderten: „Was denkst du?"
Sie legte den Kopf schief und musterte ihn von oben bis unten. „Ich denke unser Weg, wo auch immer du uns hin führst ist gerade um einiges kürzer geworden" ,sagte sie grinsend, während sie ihr Schwert an ihren Gürtel zurück steckte und ihn herausfordernd ansah.
Kurz verzog er das Gesicht. „Tut mir Leid, aber ich glaube wir müssen noch ein gutes Stück zu Fuß zurück legen. In der Kälte hole ich mir den Tod, wenn ich es auch nur versuche" ,sagte er bedauernd.
Enttäuschung blitzte in ihren Augen auf, bevor sie nickte und schweigend den Weg einschlug von dem sie gekommen waren. Kurz musterte Kilian sie, wie sie sich einen Weg durch die Sträucher bahnte.
Merkwürdig, dass sie keine Probleme mit der Kälte zu haben schien. Sofort verwarf er den Gedanken wieder, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn mit hochgezogenen Brauen abwartend ansah. Genervt verdrehte er die Augen, bevor er sich aufrichtete und mit schnellen Schritten zu ihr aufholte.

~

Mit schnellen Schritten folgte Liv Kilian durch den Wald.
Sie war eine verdammte Idiotin! Der Teufel sollte sie verfluchen, dass sie immer noch bei ihm war. Er war ein Gestaltwandler. Na und? Änderte das etwas? Nein und doch änderte es irgendwie... alles. Was sie aber vor allen Dingen dazu bewegt hatte bei ihm zu bleiben, war seine Geschichte. Er war ein Kämpfer. Das wusste sie jetzt!
Doch war sie es auch? Sie hatte im Gegensatz zu ihm ihr bisheriges Leben mit Töten und Stehlen verbracht. Sie hasste zwar den König, doch war sie nicht so naiv sich gegen ihn zu stellen.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie die Wurzel nicht bemerkte unter der sich ihr Stiefel verhakte. Beinah wäre sie der Länge nach auf dem nassen Waldboden gelandet, hätte Kilian vor ihr nicht blitzschnell reagiert und sie am Arm gepackt.
Fluchend riss sie sich von ihm los und funkelte ihn wütend an. „Finger weg!" ,war das einzige, was sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor stieß.
Seine Augen blitzten amüsiert auf, doch er ließ sie augenblicklich los, was sie noch wütender machte. Wieso konnte er sie nicht einfach auch mal anschreien? Dann hätte sie wenigstens einen Grund dafür ihm an die Kehle zu gehen und ihm seine haselnussbraunen Augen auszureißen. Prüfend musterte er sie, bevor er sich wieder nach vorne wandte, um ihren Weg fortzusetzen. „Kilian!" ,er blieb stehen und schaute sie fragend an, „Was macht dich so sicher, dass ich noch kämpfe?"
Er schien überrascht über ihre Frage zu sein, doch er zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Erst war es nur ein Gefühl, doch als ich sah mit welch einer Abscheu du die Bilder an den Wänden des Thronsaals angesehen hast, wusste ich es."
Mit dieser Antwort hatte sie tatsächlich nicht gerechnet und so nickte sie nur und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei weiter zwischen den Bäumen hindurch. Nach zwei Schritten hatte er zu ihr aufgeholt und ging mit den Händen in den Taschen seines Umhangs neben ihr her.
Ihren Umhang vermisste sie tatsächlich mehr als ihr lieb war, denn obwohl sie schon ein gutes Stück in Richtung Süden gegangen waren, hatte Liv das Gefühl, dass die Kälte noch unbarmherziger geworden war. Dazu war noch ein träger Schneefall zum Mittag hin gekommen, der ihre verschmutzten Haare komplett durchnässt hatte.
„Wohin gehen wir eigentlich?" ,fragte sie plötzlich. Dass sie diese Frage nicht schon viel früher gestellt hatte, bewies mal wieder, dass Kilian ihr eindeutig nicht gut tat.
„Wir müssten zum Abend hin ein kleines Dorf erreichen. Dort gibt es ein Gasthaus, wo wir schlafen können" ,erklärte er, ohne den Blick vom Weg abzuwenden.
„Das meine ich nicht!" ,jetzt schaute er sie fragend an, „Was ist unser Ziel? Oder gehen wir ewig in Richtung Süden bis wir von allen Karten verschwunden sind?"
Seine Mundwinkel wanderten langsam nach oben. „Eine Antwort für eine andere!" ,schlug er vor. Genervt verdrehte sie die Augen. „Vergiss es!" ,sagte sie und schaute wieder nach vorne.
Ihm irgendetwas über sich zu erzählen war das Letzte, was sie tun würde, doch musste sie auch wissen, wo er sie hinführte. Es war nicht so, dass sie noch etwas hatte, was sie nach Vasilias oder generell in den Norden zurück bringen würde. Deswegen war es um so wichtiger, dass sie wusste, wo sie die nächste Zeit ihres Lebens verbringen würde.
Fluchend schaute sie wieder zu Kilian, der sie die ganze Zeit amüsiert gemustert hatte: „Na gut, aber du antwortest zu erst."
Er grinste triumphierend, bevor er sich umschaute und leise erklärte: „Wir werden die kahle Ebene und den Fluss überqueren. Danach werden wir am Rande des Schattenwaldes bei der Hütte meiner Mutter Zuflucht suchen und mindestens warten, bis die Jagd vorbei ist. Was danach passiert, habe ich noch nicht geplant."
Sie nickte langsam. Der Schattenwald also. Ein Wald, den die Menschen fürchteten und in dem die Gestaltwandler in ihren Tiergestalten Zuflucht suchten. Offensichtlicher ging es auch nicht! Kilians Stimme holte sie wieder in die Realität zurück. „Wo bist du aufgewachsen?" ,fragte er interessiert.
Sie überlegte. An sich eine harmlose Frage, doch sollte sie ihm die Wahrheit sagen?
Kilian hatte die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt. „Überlegst du gerade ernsthaft, ob du mich anlügen sollst?" ,fragte er genervt.
Ein hämisches Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus. „Du hast eine Antwort verlangt. Dass diese Antwort der Wahrheit entsprechen soll, hast du mit keinem Wort erwähnt" ,sagte sie schulterzuckend.
Er verdrehte die Augen, während er genervt fragte: „Schonmal was von Fairness gehört?"
Sie schüttelte grinsend den Kopf. Es machte ihr unglaublichen Spaß ihn zur Abwechslung mal zur Weißglut zu bringen.
Als sie keine Anstalten machte doch noch etwas zu sagen, blitzte für einen winzigen Moment so etwas wie Enttäuschung in seinen Augen auf. Wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet, denn als sie ein zweites Mal hinsah war sein Gesicht wieder ausdruckslos nach vorne gerichtet.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now