Kapitel 22

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Erst als die ersten Sonnenstrahlen des Tages über die kahle Ebene tanzten und Kilian weit und breit keine Soldaten, die ihnen folgten, erkennen konnte, drosselte er das Tempo des schnaubenden Hengstes, auf dem er ritt. Liv saß mit halbem Bewusstsein vor ihm, ihren Kopf hatte sie an seine Brust gelehnt und nur sein Arm, den er schützend um sie gelegt hatte, verhinderte, dass sie nicht aus dem Sattel kippte. Er stieß einen leisen Fluch aus, als er einen Blick auf Livs Arm warf, der leblos an ihr herunter hing. Irgendwie musste er ihn verbinden, sonst würde sie ihn Monate lang nicht mehr benutzen, geschweige denn ein Schwert mit ihm führen können.
Wachsam ließ er seinen Blick über die Ebene schweifen. Nichts als Geröll, ein paar vereinzelte Disteln und der Weg, dem er in Richtung Süden folgte. Keine Bäume, keine Dörfer, keine Lebewesen. Dieser Ort hatte schon immer die meisten Menschen abgeschreckt, doch seitdem auf der Ebene vor 19 Jahren die Schlachten zwischen Gestaltwandlern und Menschen ausgetragen worden waren, hatten sich auch die letzten Lebewesen verzogen.
Kilian hatte ein ungutes Gefühl, als er den Hengst zu einer der niedrigen Felsen steuerte, die nicht weit vom Weg entfernt ein wenig Deckung boten. Vorsichtig schwang er sich aus dem Sattel. Die Steine unter seinen Stiefeln knirschten laut, als er Liv ebenfalls vom Rücken des Pferdes hob.
Sie öffnete die sturmgrauen Augen und schaute ihn möglichst herausfordernd an, bevor sie leise verkündete: „Ich kann auch selbst laufen!"
Kilian schnaubte belustigt, während er sie an der Felswand vorsichtig absetzte und ihr half sich mit dem Rücken gegen den rauen Stein zu lehnen. Besorgt musterte er ihr kalkweißes Gesicht und ihre müden Augen, die ihn immer noch herausfordernd betrachteten.
„Wir müssen irgendwie die Blutung stoppen" ,stellte er über die Schulter hinweg fest, während er anfing die Satteltaschen des Hengstes zu leeren. Trockenes Brot, zwei Flaschen mit frischem Wasser, eine Karte der beiden Reiche, drei Dolche, die er sofort unter seinem Umhang verstaute und am Boden der Tasche fand er tatsächlich ein paar Leinen, die er verwenden konnte.
Mit den Sachen im Arm kehrte er zu Liv zurück, die ihn mit gerunzelter Stirn beobachtete. Zuerst gab er ihr eine der Flaschen mit Wasser und das Brot, das sie wortlos entgegen nahm, in die gesunde Hand. Die Karte steckte er in eine der Taschen an der Innenseite seines Umhangs, bevor er den dunklen Umhang von den Schultern streifte und die Ärmel seines Hemdes nach oben krempelte. Er ignorierte Livs drohenden Blick, als er sich neben sie kniete und vorsichtig ihre zerrissene und blutverschmierte Tunika zur Seite strich. Er schluckte, als er den Ausmaß der Wunde sah. Vom Oberarm bis zum Handgelenk zog sich eine tiefe Schnittwunde. Ein Teil ihres Knochens lag frei und überall war Blut.
Schnell holte Kilian das kleine Fläschchen von Lucien hervor. Für eine derartige Wunde würde die weiße Tinktur wohl kaum reichen, doch eine bessere Idee hatte er nicht. Konzentriert desinfizierte er mit dem Wasser aus der anderen Flasche, die er in der Satteltasche gefunden hatte, die Wunde. Liv zischte leise, als das Wasser ihre Haut berührte, doch sie wehrte sich nicht. Auch nicht, als er die weiße Tinktur vorsichtig auf die Wunde rieb.
Eigentlich hätte man einen derartig tiefen Schnitt nähen müssen, doch vielleicht auch nicht, schließlich bestand das weiße Heilmittel doch aus so etwas wie Magie. Oder nicht? Innerlich verfluchte Kilian sich, dass er seiner Mutter nie richtig zugehört hatte, als sie ihm das Heilen hatte beibringen wollen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben ihn für etwas zu begeistern, für das er sich nicht im geringsten interessiert hatte. Trotzdem hatte er eines in den Jahren als Krieger und Soldat gelernt, wie man eine Blutung stoppte, bis weitere Hilfe eintraf. Und so wickelte er mit geschickten Griffen die Leinen um Livs Arm.
Aus dem Augenwinkel konnte er die Tränen, die der Schmerz verursachte und die in ihren Augen schimmerten, deutlich sehen, doch sie wandte sich schnell ab, als sie seinen Blick bemerkte und schaute auf irgendeinen Punkt am Horizont.
Nachdem Kilian das letzte Stück des Verbandes zusammen geknotet hatte, ließ er sich neben Liv an die Felswand gelehnt nieder, wischte seine von silbernem Blut bedeckten Hände an seiner Hose ab und aß und trank, was sie von dem trockenen Brot und dem Wasser übrig gelassen hatte. Über ihnen zogen vereinzelte Wolken am noch rötlich schimmernden Himmel vorbei und der Hengst hatte angefangen an einer der Disteln zu rupfen.
„Danke!" ,murmelte Liv irgendwann mit schwacher Stimme in die Stille hinein.
Überrascht schaute Kilian sie an. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihm nicht mehr an die Kehle springen würde, wenn er ihr half, doch dass sie sich bedankte, hätte er niemals erwartet.
„Auch wenn ich das alles auch alleine geschafft hätte" ,fügte sie nach einiger Zeit todernst hinzu. Kilian konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, was ihm sofort einen bedrohlichen Blick von ihr einfing. Andere wären wohl unter ihren sturmgrauen Augen eingeknickt, doch Kilian konnte auch einen Funken Belustigung hinter ihrem Blick erkennen.
„Wie weit ist es noch?" ,wechselte sie schlagartig das Thema.
Kilian zuckte mit den Schultern, während er die Karte aus seinem Umhang holte und sie vorsichtig auf seinem Schoß ausbreitete. Dann deutete er auf die Fläche, auf der in geschwungener Schrift die kahle Ebene geschrieben stand. „Irgendwo in dem Bereich" ,erklärte er an Liv gewandt.
Sie hob skeptisch die Brauen. „Das ist aber sehr wage" ,stellte sie fest, während sie den großen Bereich auf der Karte betrachtete, der die kahle Ebene umfasste.
Kilian verdrehte die Augen. „Siehst du hier etwa irgendwo einen Baum oder sonst etwas, woran man sich hätte orientieren können? Außerdem ist dieser Teil des Reiches nicht unbedingt der beliebteste unter Reisenden oder anderen Bewohnern" ,sagte er schnaubend.
Liv nickte langsam, während ihr Blick über die kahle und trostlose Landschaft wanderte. Sie wusste genau, was an diesem Ort geschehen war. Da war Kilian sich sicher. Sie war vielleicht vorher noch nie irgendwo südlich von Vasilias gewesen, doch dafür wusste sie mindestens so viel über die beiden Reiche wie er selbst.
Nach einiger Zeit des Schweigens deutete Kilian auf einen Punkt am Rand der Karte direkt unterhalb des Schattenwaldes. „Dort hat Mutter ihre Hütte" ,erklärte er an Liv gewandt, die interessiert auf den Punkt schaute, auf den sein Finger wies.
„Was meinst du wie lange wir noch brauchen werden?" ,fragte sie nachdenklich.
Langsam faltete Kilian die Karte zusammen und verstaute sie wieder in seinem Umhang. Dann stand er auf, den Blick zum südlichen Horizont gerichtet.
„In drei Tagen beginnt die Jagd. Bis dahin sollten wir dort sein" ,sagte er ohne sie anzusehen. „Dann sollten wir am besten aufbrechen" ,murmelte sie leise, während sie versuchte sich auf unsicheren Beinen aufzurichten, ohne dass Bewusstsein zu verlieren.
Kaum hatte sie es geschafft sich mit ihrem gesunden Arm an der Felswand neben ihn zu stellen schwankte sie bedrohlich. Instinktiv legte Kilian seinen Arm um ihre Schulter. Im Augenwinkel sah er bereits, wie sich die weißen Leinen, die er um ihre Wunde gewickelt hatte, silbern färbten.
Besorgt schaute er ihr in die Augen. „Bist du sicher, Liv?" ,fragte er ernst.
Er sah förmlich wie sie den Schmerz herunterschluckte, während sie entschlossen nickte. Doch wirklich überzeugt war Kilian nicht, als er ihr auf den Rücken des Hengstes half und die beiden nun leeren Flaschen wieder in der Tasche verstaute. Dann zog er sich selbst hinter ihr in den Sattel und steuerte das erschöpfte Pferd unter ihm zurück auf den steinigen Weg.

~

Zayn von Amyr versprühte die reine Wut, als er auf seinem schwarzen Hengst durch das Tor seiner Stadt ritt. Eine Menschenmenge hatte sich um den Platz hinter dem Tor versammelt und aufgeregte Stimmen hallten durch die engen Gassen. An mehreren Stellen bedeckte rotes Blut die Pflastersteine und an den Häuserwänden versorgten ein paar Heiler die verletzten Soldaten.
So leichtfüßig wie möglich schwang Zayn sich aus dem Sattel und reichte sein Pferd an einen der Männer der Stadtwache weiter, der betreten den Kopf gesenkt hatte. Zayn versuchte sein Hinken zu unterdrücken, als er unter den Blicken der Menge zu seinem Soldaten hinüber ging, der eigentlich nur in Amyr neue Vorräte hätte holen sollen. Ein Heiler kniete neben dem Mann und verband seinen blutüberströmten Arm.
Herablassend schaute Zayn auf den verletzten Soldaten hinunter, der durch vernebelte Augen zu ihm hinauf blickte. Respekt lag in seinem Blick, doch kein bisschen Angst, so wie alle anderen Menschen auf dem Platz ihn beobachteten. Der Mann war einer seiner loyalsten Soldaten und doch hatte er augenscheinlich versagt.
„Was ist passiert?" ,fragte Zayn mit einem kurzen Blick auf die anderen Soldaten, die noch viel größere Versager waren, als der Mann, der vor ihm saß.
Dieser fing gedämpft an zu erzählen: „Es waren die Gestaltwandlerin und der Captain, Mylord. Sie wollten am Abend die Stadt verlassen..."
Zayns Augen verengten sich und seine Stimme donnerte über den Platz: „Verlassen?!"
Die Gespräche der Menge und der Stadtwachen verstummten augenblicklich. Alle schauten nun ihn und den verwundeten Soldaten an, der immer noch an der Hauswand lehnte.
„Ja Mylord" ,sagte dieser leise, „Ich war gerade angekommen, als sie kamen. Sie gaben sich zuerst, als jemand anderes aus, um an den Stadtwachen vorbei zu kommen. Ich erkannte jedoch die Stimme des Captain und..."
Zayn unterbrach den Soldaten erneut. Seine Stimme war überraschend ruhig, als er entschieden sagte: „Das reicht! Den Rest kann ich mir denken. Wie viele Tote?"
Der Mann schüttelte den Kopf, als er leise erklärte: „Es gibt keine."
Überrascht schaute Zayn ihn an und er wollte schon etwas erwidern, als ein Raunen durch die Menge ging. Mit gerunzelter Stirn folgte Zayn den Blicken der anderen zum Tor. Ein Mann auf einem Pferd war dort aufgetaucht. Seine Uniform war zerrissen und seine blutverschmierten Haare klebten in seinem Gesicht. Ein weiteres Raunen ging durch die Menge, als der Mann langsam den Kopf hob. Tiefe Krallenspuren verunstalteten das, was von seinem Gesicht noch übrig war und ein Auge war komplett zu geschwollen.
Ausdruckslos bedeutete Zayn dem Heiler, der immer noch neben dem Soldaten kniete, mit einer Handbewegung den Mann entgegen zu nehmen. Nachdenklich beobachtete er, wie fünf weitere Männer den Verwundeten vom Pferd hoben und ihn ebenfalls an die Hauswand zu den anderen Verletzten lehnten.
Der Heiler redete leise auf den verletzten Soldaten ein, der kurz darauf das Bewusstsein verlor. Mit gerunzelter Stirn trat Zayn näher. Die Menge fing an sich langsam zu verstreuen und wieder ihren morgendlichen Beschäftigungen nachzugehen.
„Was hat er gesagt?" ,fragte Zayn interessiert an den Heiler gewandt, der bei seinen Worten in seiner Arbeit innehielt und langsam aufstand. Er hatte schwarzes langes Haar, war größer als Zayn und mit den dunklen Augen, in denen er für einen kurzen Moment so etwas wie Verachtung erkennen konnte, hatte dieser Mann etwas an sich, das ihm ganz und gar nicht gefiel.
„Er sagte der weiße Wolf hätte ebenfalls eine Wunde gehabt" ,sagte der Heiler ausdruckslos.
Zayn nickte leicht, bevor er sich abwandte und laut verkündete: „Ich brauche zwanzig Männer, die mit mir zur Brücke reiten und bereit sind im Schattenwald auf die Jagd zu gehen!"

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now