Kapitel 21

747 59 0
                                    

Im Schutz der Dunkelheit folgte Liv Kilian mit schnellen Schritten durch die engen Gassen von Amyr. Es war Neumond und so spendeten nur vereinzelte Laternen an den Marktplätzen ein wenig Licht. Alle Gassen und Plätze waren menschenleer. Nicht mal eine Stadtwache begegnete ihnen auf dem Weg zur Stadtmauer.
Der Abschied von Lucien war kurz gewesen. Er hatte Kilian noch ein Fläschchen mit der weißen Tinktur mitgegeben und Liv einen seiner dunklen Umhänge überlassen, dessen Kapuze sie nun noch tiefer in ihr Gesicht zog. Das Buch der Stammbäume von Eletheria, das sie sich von Lucien geliehen hatte, spürte sie deutlich an ihrer Seite, wo sie es in einer der Taschen des Umhangs verstaut hatte.
Liv hatte ein ungutes Gefühl, als sie neben Kilian direkt auf das Tor und die Stadtmauer zuging. Es war eine Sache die Stadt an einem Markttag gegen Nachmittag zu betreten, wo hunderte Menschen durch das Tor strömten und die Wachen nicht wirklich auf jedes Gesicht achteten. Mitten in der Nacht durch das Tor zu gelangen war etwas ganz anderes, doch wenn sie Glück hatten, würde sie wie schon beim Betreten der Stadt die Wachen mit ein paar nichtssagenden Versprechungen überreden können, sie ohne einen genaueren Blick auf Kilian durch das Tor zulassen.
Zehn Wachen zählte Liv am und in der Nähe des Tores. Die meisten dösten auf ihre Schwerter gestützt und bemerkten sie und Kilian nicht, als sie mit zielstrebigen Schritten weiter auf das Tor zu gingen. Im Torbogen standen zwei Soldaten und unterhielten sich in gedämpften Ton. Der Eine der beiden hatte ihnen den Rücken zugewandt. Er hielt einen braunen Hengst am Zügel, der erschöpft die Augen geschlossen hatte. Sie waren nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt, als die beiden Soldaten ihr Gespräch unterbrachen. Der Mann, der ihnen den Rücken zugewandt hatte drehte sich ebenfalls zu ihnen um.
Fast im selben Moment sprach Kilian aus, was sie dachte. „Scheiße!" ,fluchte er beinah unhörbar, sodass nur Liv es hören konnte.
Der Soldat trug eine Rüstung, die mit dem Wappen von Vasilias bestickt war und wenn sich Liv nicht komplett irrte war er einer der Männer gewesen, die vor zwei Nächten mit Zayn auf der Lichtung gestanden hatten.
Wie beiläufig wanderte ihre Hand zu ihrem Schwert, das sie an ihren Gürtel unter den dunklen Umhang gehängt hatte, während die andere Wache, die neben dem Soldaten aus Vasilias stand, ihnen entgegen rief: „Zu so später Stunde wollt ihr noch die Stadt verlassen?"
Ein warnender Blick von Kilian sagte ihr, dass sie nicht sofort angreifen sollte und so nahm sie mit einem gespielt scheuen Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens aus der Kneipe ihre Kapuze ab. „Entschuldigen sie bitte. Ich habe ein wenig die Zeit vergessen, als ich mich in einer der Gaststätten mit meiner Freundin getroffen hatte" ,sagte sie möglichst unterwürfig, während sie entschuldigend den Kopf sengte.
Die Wache grinste breit und musterte sie begierig von oben bis unten. „Nun, es wäre mir eine Ehre euch mein Bett für die Nacht anzubieten. Es ist nur wenige Gassen von hier entfernt" ,fuhr er fort.
Livs Hände ballten sich zu Fäusten, als er einen Schritt auf sie zutrat. Gerade wollte sie ihm mit einem ihrer Dolche das hässliche Grinsen aus dem Gesicht schneiden, als sie Kilians Hand auf ihrer Schulter spürte.
„Das wird nicht nötig sein. Das Fräulein hat ein Haus ganz in der Nähe" ,sagte er bestimmt.
Der Mann schaute ihn an, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt und sein Lächeln wechselte zu einem gehässigen Grinsen. „Und wer seit ihr?" ,fragte er mit einem Kopfnicken in Kilians Richtung.
„Ihr Bruder" ,antwortete Kilian unter seiner Kapuze, die sein Gesicht beinah komplett verbarg. Aus dem Augenwinkel nahm Liv eine Bewegung war. Der Soldat aus Vasilias trat nun ebenfalls vor, sodass er direkt vor Kilian stand. Seine Augen hatte er misstrauisch verengt.
„Kennen wir uns nicht?" ,fragte er Kilian. Er war ein wenig kleiner als dieser, doch eine Hand, die er auf seinen Schwertknauf gelegt hatte verrieten Liv, dass er Verdacht schöpfte.
Kilian hatte in diesem Moment wohl auch entschieden, dass sie aus dieser Sache nicht ohne einen Kampf heraus kommen würden, denn er zog die Kapuze seines Umhangs aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht. Sag du es mir" ,murmelte er, während er den Soldaten aus Vasilias herausfordernd musterte.
Dieser reagierte blitzschnell und zog sein Schwert aus der Scheide. „Die Frau ist eine Gestaltwandlerin!" ,rief er laut, sodass auch die anderen Soldaten ihre Schwerter zogen und auf sie zu gerannt kamen.
Auf Livs Gesicht erschien ein bedrohliches Grinsen, als helles Licht um ihren Körper aufleuchtete und sie sich wieder zurück in ihre eigene Gestalt verwandelte. Die Augen des Soldaten, der ihr eben noch sein Bett angeboten hatte weiteten sich erschrocken und er zog ebenfalls sein Schwert. Liv und Kilian standen jetzt Rücken an Rücken, während die Wachen sie langsam umkreisten.
„Der Lord wird stolz auf mich sein, wenn ich euch ihm ausliefere, noch dazu in seiner eigenen Stadt" ,sagte der Soldat aus Vasilias, ein siegessicheres Grinsen auf dem Gesicht. Allein an der Art wie er sein Schwert hielt wusste Liv, dass dieser Mann ein Gegner werden konnte, doch er war niemand mit dem sie es nicht hätte aufnehmen können.
Und so grinste sie ihn abschätzend an, bevor sie mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme verkündete: „Freu dich nicht zu früh!" Dann griff sie an.
Das Schwert des Soldaten aus Vasilias und ihres schlugen klirrend aufeinander. Sie parierte ein paar seiner Schläge, während sie gleichzeitig mit einem ihrer Dolche der Wache, die sie gerade noch für eine unschuldige junge Frau gehalten hatte, den Bauch aufschlitzte.
Stöhnend fiel der Mann auf die Knie. Aus dem Augenwinkel sah sie gerade noch wie Blut zwischen seinen Fingern hervortrat, während sie bereits die nächsten Schläge des Soldaten mit ihrem Schwert parierte.
Das Klirren von weiteren Schwertern, die aufeinander Schlugen verriet ihr, dass Kilian ebenfalls angegriffen hatte. Der braune Hengst, der immer noch im Torbogen stand, wieherte aufgebracht. Es würde nicht lange dauern dann wäre das Tor von Soldaten umzingelt.
Mit Leichtigkeit wich Liv dem nächsten Schlag des Soldaten aus Vasilias aus, dessen Schwert sie nur um eine Haaresbreite verfehlte, bevor sie auf seinen ungeschützten linken Arm zielte und ihr Schwert auf den Stoff seiner Tunika hinunter sausen ließ. Muskeln rissen und Blut spritzte hervor. Der Mann schrie auf vor Schmerz, bevor er sein Schwert fallen ließ und in die Knie ging. Herablassend schaute sie einen Moment auf ihn hinunter, bevor sie sich nach Kilian umsah. Er stand in einem Kreis aus bewusstlosen Soldaten und kämpfte gegen zwei Wachen gleichzeitig. Während Liv einer weiteren Wache mit ihrem Schwert den Oberschenkel aufschlitzte, suchte sie die Umgebung nach einem Fluchtweg ab. Zu Fuß würden sie nicht weit kommen.
„Kilian! Nimm das Pferd!" ,rief sie ihm zu, um die Geräusche des Kampfes zu übertönen. Er fing kurz ihren Blick auf, bevor er die beiden Wachen, gegen die er gerade noch gekämpft hatte zu Boden stieß und auf das Tor und den braunen Hengst zu rannte.
Liv hatte sich mittlerweile ebenfalls bis zum Torbogen vorgearbeitet, wo sie Kilian Deckung gab, der sich leichtfüßig in den Sattel schwang. Aus den Gassen rannten nun weitere Soldaten auf sie zu.
Mit einem Blick über ihre Schulter bedeutete sie Kilian los zu reiten, bevor sie ihr Schwert zurück an ihren Gürtel steckte und ihre sturmgrauen Augen schloss. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde bis sie die Erinnerung vor ihrem inneren Auge sah. Dann blitzte helles Licht um ihren Körper auf und ihre Haut wurde zu schneeweißem Fell, ihre Hände zu Pfoten und ihre Gestalt zu der eines großen Wolfes.
Sie konnte die Angst der Wachen riechen, die langsam zurück wichen, als sie die scharfen Zähne fletschte. Doch anstatt anzugreifen, drehte sie sich blitzschnell um und folgte Kilian, der bereits auf dem braunen Hengst den Weg in Richtung Süden einschlug. Liv genoss es wie der kalte Nachtwind an ihr vorbei sauste und durch das weiße Fell des Wolfes strich.
Sie hatte den Torbogen hinter sich gelassen und schon fast Kilian eingeholt, als sie den Soldaten aus Vasilias laut brüllen hörte: „Folgt ihnen! Oder der König wird euch höchstpersönlich die Haut von den Knochen ziehen!"
Sie blickte nicht zurück, als sie kurz darauf das Schlagen von Hufen hören konnte. Kilians Blick, den er ihr über die Schulter zuwarf, sagten ihr bereits, dass der Kampf noch nicht vorbei war. Sie hielt seinen Blick fest, während sie ihm klar machte, dass er auf gar keinen Fall stehen bleiben sollte. Nun war es an ihr die scharfen Zähne und die unglaubliche Schnelligkeit auszunutzen, die die Gestalt des Tieres ihr verliehen.
Im Augenwinkel konnte sie bereits das erste Pferd erkennen. Der junge Mann, der es anspornte hatte die Augen zielsicher verengt und das Schwert hoch erhoben. Sie ließ sich ein Stück zurück fallen, sodass sie mit ihm auf einer Höhe war, bevor sie plötzlich die Hinterbeine in den Boden stemmte und sich kräftig abstieß. Der Soldat hatte keine Chance auch nur ansatzweise zu reagieren, als sie ihm im Flug die Zähne in die Seite trieb und ihn vom Pferd stieß.
Sie schmeckte Blut, als sie sich auf dem harten Boden abrollte und den nächsten Reiter ins Visier nahm. Sie zählte fünf von ihnen, die die Verfolgung aufgenommen hatten. Wieder stieß sie sich mit den kräftigen Hinterbeinen ab und segelte auf den Reiter zu. Dieser war jedoch vorbereitet und so schaffte er es mit seinem Schwert eines ihrer Vorderbeine aufzuschlitzen, bevor er mit ihren Zähnen in seinem Bauch vom Pferd kippte.
Der Schmerz trieb Liv beinah die Tränen in die Augen, als sie trotz des Blutes, das das schneeweiße Fell des Wolfes silbern färbte, auf das nächste Pferd zu rannte. Es war unmöglich mit diesem Bein noch einmal so hoch zu springen und so stürzten die nächsten beiden Pferde gemeinsam mit ihren Reitern in vollem Lauf zu Boden.
Als Liv sich, nachdem sie sich das zweite Mal abgerollt hatte, wieder aufrichtete und die Beine des Wolfes sich wie von selbst wieder in Bewegung setzten, schaute sie sich suchend nach dem letzten Reiter um. Sie war ein wenig zurück gefallen und in der Dunkelheit konnte sie weder Kilian noch ein weiteres Pferd ausmachen, doch sie hörte deutlich das Klirren von Schwertern und das Schnauben der Pferde. So schnell sie konnte folgte sie dem Geräusch, während sie den Schmerz an ihrem Vorderbein so gut es ging verdrängte.
Es dauerte nicht lange, bis sie Kilian auf dem braunen Hengst und den anderen Reiter ausmachen konnte. Im vollen Galopp schlugen ihre Schwerter aufeinander. Zielstrebig hielt Liv auf Kilians linke Seite zu. Der Schmerz an ihrem Bein war nur noch ein Pochen und die Geräusche der aufeinander schlagenden Schwerter rückten in den Hintergrund, als sie die Hinterbeine des Wolfes ein letztes Mal in den Boden stemmte und über Kilian hinweg flog, der es gerade noch schaffte ihren scharfen Krallen auszuweichen, bevor sie sie in das Gesicht seines Gegners stieß. Sie hatte keine Chance mehr sich abzufangen, als sie zusammen mit dem Reiter zu Boden fiel.
Kaum hatte sie den Boden erreicht verwandelte sie sich zurück in ihre eigene Gestalt. Sie spürte das Blut, das von ihrem Arm auf den Boden tropfte und ihre Tunika durchtränkte, sie sah den Reiter, der bewusstlos neben ihr lag, das Gesicht durch die tiefen Kratzer, die sie ihm zugefügt hatte, kaum noch zu erkennen und dann waren da auf einmal starke Arme, die sich unter ihren Körper schoben und sie hochhoben.
„Wir müssen hier weg!" ,murmelte Kilian, während seine Augen besorgt ihr verdrecktes Gesicht musterten. Der Schmerz vernebelte ihre Sinne, doch sie schaffte es irgendwie sich mit seiner Hilfe vor ihn in den Sattel zu ziehen.
Er hielt sie fest, als sie weiter über die kahle Ebene ritten, die sich vor ihnen bis zum Horizont erstreckte.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now