Kapitel 18

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Gedankenverloren beobachtete Fiona wie die Nacht auf das weite Gebirge hinabsank und langsam aber sicher ihre tintenschwarzen Arme über die Stadt legte. Gleich würde sie dem König ein weiteres Mal gegenüber treten müssen und hoffentlich Antworten auf ihre Fragen bekommen, die sie die letzten zwei Tage geplagt hatten.
Crow hatte sie nach einer kurzen Begrüßung schweigend gewaschen, ihre Wunden ein letztes Mal versorgt und war nun dabei ihr möglich schmerzlos das nachtblaue Kleid überzustreifen, das der König für sie ausgewählt hatte. Zum Glück war Crow allein gekommen, ohne die anderen Dienerinnen, die Fiona über die letzten zwei Tage hinweg gepflegt hatten, denn da war noch etwas, was sie die schöne schwarzhaarige Dienerin fragen musste.
„Hast du dem König meinen Namen genannt?" ,murmelte Fiona, während sie Crow beobachtete wie sie das Korsett an ihrem Rücken vorsichtig zuschnürte.
Überrascht schaute die Dienerin sie an. „Nein Fiona. Ich habe ihm nicht deinen Namen verraten" ,sagte sie ehrlich und Fiona glaubte ihr.
Crow senkte wieder den Kopf und fuhr mit ihrer Arbeit fort, während sie leise erklärte: „Für die meisten Adeligen sind wir Dienerinnen unsichtbar. Nur wenige schätzen unsere Arbeit und kennen unsere Macht. Ich würde fast behaupten wir wissen mehr über die Geschehnisse hier am Hof, als der König selbst."
Ein Lächeln huschte über Fionas Gesicht. Crow schien zu verstehen wie groß die Macht des Wissens war, genauso wie die Macht der Unscheinbarkeit. Zwei Fähigkeiten, die sie selbst über all die Jahre perfektioniert hatte.
„Weißt du auch wieso der König mich aus den Kerkern geholt hat?" ,fragte Fiona hoffnungsvoll.
Crow ließ von dem Korsett ab, um ihr kurz darauf mit geübten Handgriffen das blaue Kleid überzuziehen. Erst nachdem sie es hinten ebenfalls zugeschnürt hatte, antwortete sie: „Es tut mir Leid, doch die Gedanken des Königs sind selbst für uns unergründlich."
Fiona nickte, während Crow sie vor den riesigen Spiegel schob, der an der Wand des Bades hing. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Fiona die Frau an, die ihr im Spiegel gegenüber stand und nicht mehr viel mit ihr selbst zu tun zu haben schien. Ihr blondes gelocktes Haar lag ordentlich auf ihren Schultern und umrahmte ihr makelloses Gesicht, der einzige Teil ihres Körpers, den Zayn nie angerührt hatte. Auf ihrem Kopf lag ein geflochtener Kranz aus blauen Lilien und bei den Göttern das Kleid...! Wie die Nacht hinter den Bogenfenstern schien der samtene Stoff das Licht zu verschlucken. Das Kleid bedeckte beinah ihren gesamten Körper, selbst ihre Hände und ihr Hals waren zum Teil von einer dunklen Seide verborgen. Nichts wies auf die vielen Narben hin, die ihren restlichen Körper bedeckten, so als wollte der König es ungeschehen machen, was Zayn, was der König selbst ihr angetan hatte. Keine Gefangene, eine Prinzessin.
Der überraschte Ausdruck verschwand auf ihrem Gesicht und ihre Hände ballten sich augenblicklich zu Fäusten. Das Gefühl nichts weiter als ein Objekt in einer Sammlung zu sein überkam sie wie eine Flutwelle.
Plötzlich spürte Fiona eine Hand auf ihrer Schulter, die kurz darauf beruhigend über ihren Arm strich. „Du schaffst das, Fiona" ,flüsterte Crow zuversichtlich in ihr Ohr. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, das Fionas wild klopfendes Herz ein wenig beruhigte.
Vorsichtig schob Crow sie vom Spiegel weg, bevor sie auf die Bogenfenster am anderen Ende des Badezimmers zusteuerte und sich vor einen der Blumentöpfe niederkniete. Fionas Atem ging schneller, als Crow die Erde zur Seite schob und Livs Dolch daraus hervorzog. „Woher...?" ,stammelte Fiona, während Crow mit dem Dolch in der Hand zurück auf sie zukam. „Dein Blut" ,sagte sie nur, bevor sie sich vor ihr niederkniete, ein Stück Stoff aus der Tasche ihres schlichten Kleides hervorzog und den Dolch damit um Fionas nackten Oberschenkel band. Dann ließ sie das dunkle Kleid wieder herunter und stand auf. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sich eine tödliche Waffe unter dem dicken Stoff befand, doch Fiona konnte die kalte Klinge deutlich spüren und es machte ihr Angst, dass sie sie möglicherweise gleich verwenden musste.
Ernst schaute Crow sie an. „Benutze sie nur im aller größten Notfall, obwohl ich mir sicher bin, dass der König nicht vorhat dir etwas anzutun" ,sagte sie energisch, bevor sie Fiona in eine feste Umarmung zog.
Überrascht blinzelte Fiona. Wann hatte sie jemand das letzte mal so umarmt? Es musste Jahre her sein. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass die Gedanken an ihre Mutter ihr die Tränen in die Augen trieben, während sie Crows Umarmung unsicher erwiderte. Eine ganze Weile standen sie einfach nur so da, bis Crow sich von ihr löste und ihr ein letztes Mal ein aufmunterndes Lächeln zuwarf, bevor sie Fiona aus der Tür des Badezimmers führte.

Der fliehende FalkeWhere stories live. Discover now