Kapitel 20

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Am nächsten Tag wachte Kilian schon bei den ersten Sonnenstrahlen auf, die durch das kleine Fenster oberhalb des Bettes schienen. Der Schmerz an seiner Rippe war erträglicher geworden, sodass er sich vorsichtig aufrichten konnte. Neben ihm auf dem Boden lag Liv. Sie hatte die Augen geschlossen und der zierliche Körper des Mädchens aus der Kneipe hob und senkte sich regelmäßig. Er hatte ihr Gespräch am gestrigen Abend nicht vergessen. Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihn freiwillig hinter einige ihrer Mauern hatte blicken lassen. Dort war sie nicht mehr die unerschütterliche Diebin und Kriegerin. Dort war sie eine Frau, die kurz davor war an sich selbst zu zerbrechen.
Lucien, der mit einem Teller plötzlich das Zimmer betrat, riss ihn aus seinen Gedanken. Kilian stieg der Geruch von Käse und Wurst in die Nase und erst jetzt spürte er wie hungrig er eigentlich war. Neben ihm war nun auch Liv aufgestanden. Während sie die Decke, auf der sie geschlafen hatte, zusammenfaltete und wieder in der Kommode verstaute, reichte Lucien ihm den mit zwei Broten beladenen Teller.
„Ich hoffe ihr konntet einigermaßen gut schlafen" ,brummte er lächelnd und Kilian neigte zum Dank leicht den Kopf, bevor er begann die Brote in sich hineinzustopfen, als hätte er seit Wochen nichts mehr gegessen.
Dabei beobachtete er wie Lucien Liv erst ein wenig misstrauisch musterte und dann mit einem Nicken in Richtung Laden sagte: „Hinter der Theke ist noch ein bisschen mehr. Nimm dir ruhig etwas!" Ohne ein weiteres Wort verschwand Liv aus dem Hinterzimmer.
Lucien hatte sich auf dem Bett neben Kilian niedergelassen und schaute ihm dabei zu wie er in wenigen Sekunden beide Brote verschlang. Dann inspizierte er den Bluterguss an seinem Bauch. Er war bereits heller geworden und der Schmerz hatte nachgelassen.
Während Lucien eine weitere Schicht der weißen Tinktur auftrug, kam Liv mit einem Brot in der Hand zurück in das kleine Hinterzimmer und lehnte sich gelassen neben der Tür an die Wand. „Wann können wir weiter?" ,fragte sie noch mit vollem Mund.
Lucien schaute nicht auf, als er antwortete: „Am liebsten würde ich euch noch zwei Tage hier behalten, aber dann schafft ihr es kaum vor der Jagd bis zur Hütte. Ihr könnt heute Abend, sobald es dunkel ist, aufbrechen."
Kilian nickte leicht. „Danke, Lucien" ,sagte er lächelnd.
Der Heiler nickte ihm ernst zu, während er von ihm abließ und die Tinktur auf der Kommode abstellte. „Ich muss gleich noch ein paar Besorgungen in der Stadt machen. Vielleicht könnt ihr euch so lange hier mit beschäftigen" ,erklärte Lucien, während er aus einer der Schubladen einen Stapel verstaubter Bücher hervor holte und sie auf das Bett legte.
Dann wollte er schon den Raum verlassen, als Liv fragte: „Was sind das für Bücher?"
Bei ihren Worten hielt Lucien im Türrahmen kurz inne. „Sie handeln von der Geschichte der Gestaltwandler. Vielleicht helfen sie euch dabei die Identität des Königs heraus zu finden" ,sagte er an Liv gewandt. Dann verließ er das Hinterzimmer und kurz darauf hörten sie auch die Ladentür hinter ihm ins Schloss fallen.
Nach kurzer Zeit des Schweigens zog Kilian eins der Bücher heran. Der Einband war abgegriffen und einige der gelben Seiten waren eingeknickt. In goldenen Lettern prangte der Titel Stammbaum der Königsfamilie von Eletheria auf dem Einband. Vorsichtig blätterte er es auf und überflog die ersten Namen, die noch mit Hand in das Buch hineingeschrieben worden waren. Diana und William. Sie waren das erste bekannte Königspaar gewesen. Der Legende nach hatten die Götter ihnen die Gabe der Gestaltwandlung geschenkt, damit sie die Menschen vor Dämonen und anderen bösen Kreaturen schützen konnten. Über die Jahrhunderte entstand so ein ganzes Volk mit dieser Gabe. Jeder Gestaltwandler stammte somit von Diana und William ab. Sie waren nicht nur ein Volk, sondern eine Familie, was in den Jahrhunderten bis zum Krieg Frieden und Wohlstand für das Reich beschert hatte.
In der Mitte des Buches hörten die Namen auf. Liv hatte mittlerweile ihre Stiefel abgestreift und sich im Schneidersitz neben ihn gesetzt. Gedankenverloren starrte sie auf die letzten beiden Namen: Liam und Lyana. Das letzte Königspaar, ermordet durch die Hand eines Gestaltwandlers. Vorsichtig strich Kilian über die Seite. Für Liam hatte sein Vater sich geopfert, ohne dass es etwas am Schicksal des Königs geändert hatte. Eine Welle aus Wut und Trauer überrollte ihn und er wandte schnell den Blick von den handgeschriebenen Namen ab. Stattdessen musterte er Liv, die immer noch auf die letzten beiden Namen starrte.
„Weißt du wie sie so waren? Lyana und Liam" ,fragte sie ohne den Blick abzuwenden. Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte Kilian sich mit dem Rücken gegen die Wand.
„Meine Mutter hat mir ein paar Dinge über sie erzählt, als ich noch kleiner war. Liam war wie man sich eben einen König vorstellt. Er war großzügig und freundlich, doch er wusste genauso gut wie er sein Volk im Krieg verteidigen musste. Dabei benutzte er nicht immer die besten Methoden. Lyana wurde von ihrem Volk mehr geliebt als je eine Königin vor ihr. Sie stellte sich nicht über die anderen Gestaltwandler, sondern lebte mit ihnen. Doch Mutter erzählte mir auch, dass sie eine herausragende Kriegerin gewesen war. Bevor sie den König heiratete, soll sie im Norden als Soldatin gearbeitet haben" ,fasste Kilian in knappen Worten zusammen, was er wusste. Liv nickte leicht.
„Der König hatte einen Bruder. Was geschah mit ihm?" ,murmelte sie leise.
Überrascht schaute Kilian zurück auf die Namen und tatsächlich neben Liam konnte er einen weiteren Namen lesen. Kieron stand etwas abseits der eigentlichen Linie, die sich durch das ganze Buch zog. Keine Frau oder Kinder waren bei ihm verzeichnet. Hätte man nicht danach gesucht hätte man seinen Namen wohl übersehen.
„Vermutlich starb er entweder im Krieg oder an der Seite seines Bruders" ,sagte Kilian schulterzuckend.
Fragend schaute Liv ihn an. „Du wusstest gar nicht, dass er einen Bruder gehabt hat?!" ,stellte sie mehr fest, als dass sie fragte.
Langsam schüttelte Kilian den Kopf. „Mutter hat ihn nie erwähnt" ,murmelte er leise.

~

Konzentriert sortierte Lucien die Tinkturen und Fläschchen, die er auf dem Markt besorgt hatte, in eines der Regale im Laden ein. Er hatte die Vorhänge vor die Fenster gezogen und an der Ladentür hing ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen. Es war bereits Nachmittag. Ein paar Stunden noch und er würde wieder allein sein. Liv saß auf der Theke und blätterte in einem der Bücher, die er ihnen gegeben hatte. Sie wirkte wie in einer anderen Welt, während sie über die vergilbten Seiten und handgeschriebenen Namen strich.
Kilian ging langsam im Laden auf und ab. Seine Rippe war noch nicht komplett verheilt, doch er konnte schon wieder laufen, ohne dass er bei jedem Schritt vor Schmerzen aufstöhnen musste. Die Wirkung der weißen Tinktur aus den kalten Dörfern überraschte Lucien immer wieder aufs Neue. Er wusste, dass sie nicht aus den besten Absichten heraus erfunden worden war, doch das änderte nichts daran, dass sie ein Meisterwerk der Heilung darstellte.
Die Stimme von Liv riss ihn aus seinen Gedanken: „Wieso riskieren sie es die Bücher zu behalten?" Es war eine berechtigte Frage. Wenn die Stadtwachen von diesen Büchern Wind bekommen würden, wäre er innerhalb weniger Tage ein toter Mann.
Ohne sich umzudrehen, erklärte er: „Früher als Helena, Kilians Mutter, und ich noch jung waren, waren wir fasziniert von den Gestaltwandlern. Nachdem wir beide die Ausbildung zum Heiler abgeschlossen hatten, reisten wir von hier nach Eletheria, um dort weiter die Gestaltwandler und ihre Geschichte zu studieren. Helena traf Orion, der zu dieser Zeit bereits der Königsfamilie diente. Über ihn kamen wir auch mit dem König und der Königin in Kontakt. Bereits nach der ersten Begegnung waren Lyana und Helena die besten Freundinnen. Sie verstanden sich einfach unglaublich gut" ,allein bei dem Gedanken an die Beiden musste Lucien lächeln, „Die Bücher habe ich aus der Bibliothek des Palastes in Eletheria. Nachdem Orion und Helena geheiratet hatten, kehrte ich hier her zurück. Mein Platz war niemals in Eletheria gewesen."
Niemand sagte etwas, selbst Kilian hatte aufgehört im Laden auf und ab zu laufen. Gedankenverloren sortierte Lucien die letzten Fläschchen in das Regal, bevor er den Korb hinter der Theke verstaute und sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf einen der Stühle niederließ.
„Existiert die Bibliothek noch?" ,fragte Liv in die Stille hinein.
Kilian schüttelte den Kopf. „Sie wurde bis auf das letzte Buch verbrannt" ,erklärte er ernst.
Lucien nickte leicht. So viel Wissen war dadurch verloren gegangen. Nicht nur was die Gestaltwandler betraf. In der Bibliothek hatte es auch Karten von entfernten Kontinenten gegeben, Bücher in längst vergessenen Sprachen und über Legenden, an die sich nun keiner mehr erinnerte.
„Was weißt du über Kieron?" ,fragte Liv plötzlich.
Überrascht schaute Lucien auf. Er wusste wen Liv meinte und doch fragte er sich, wieso sie mehr über ihn wissen wollte.
„Er war der Bruder des Königs. Er befehligte die Armeen im Krieg, stand Seite an Seite mit den Soldaten an der Front. Ich habe ihn einmal flüchtig getroffen. Er kam mir nicht sonderlich sympathisch vor" ,fasste er grob zusammen, was er wusste.
Liv nickte nachdenklich. „Was geschah mit ihm?" ,fragte sie weiter.
Gleichgültig zuckte Lucien mit den Schultern. „Er wurde kurz vor dem Tod der Königsfamilie vom König der Menschen gefangen genommen. Was danach passierte weiß ich nicht. Ich vermute mal er wurde wie der Rest seiner Familie ermordet" ,erklärte er ernst.
Liv nickte knapp, bevor sie das Buch auf ihrem Schoß zuklappte und es Lucien vor die Nase hielt. „Darf ich es mitnehmen?!" ,fragte sie mit hochgezogenen Brauen. Es klang mehr nach einem Befehl, als nach einer Frage.
„Wenn ich es bei unserer nächsten Begegnung heile wieder bekomme" ,brummte er.
Sie wussten alle drei, dass es mehr als unwahrscheinlich war, dass sie sich ein weiteres Mal sehen würden. Selbst wenn Liv und Kilian es schafften, nicht vom König gefasst zu werden, müssten sie wahrscheinlich in eines der Länder jenseits der Landkarten gehen. Wenn sie blieben, würden sie nur ihren Tod hinauszögern. Jedem von ihnen war das klar, doch keiner sprach es aus.

Der fliehende FalkeOnde as histórias ganham vida. Descobre agora