60 | When did I become so numb?

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Geräuschlos und in einer unglaublichen Eleganz rieselten die kleinen Schneeflocken auf die Frontscheibe nieder. Sie benetzten diese, dünn und unschuldig und trotz ihrer geringen Größe hatten sie die Scheibe nach wenigen Sekunden bereits vollkommen in Beschlag genommen.

Leise Musik drang aus den Lautsprechern, wurde aber immer wieder durch Smalltalk der Radiomoderatoren unterbrochen. Während sich die unterschiedlichen Stimmen im Wagen abwechselten, hatte ich vollkommen vergessen, wie viel Zeit bereits vergangen war. Alaia schien mir diese auch nicht vorzuhalten, auch wenn ich dadurch ihren Nachmittag in Beschlag nahm.

Mein Kopf war wie leergefegt. Als wäre jemand mit einem Besen durch ihn marschiert und hätte alles in einen Mülleimer befördert, um Platz zu schaffen.

Genauso fühlte sich der Rest meines Körpers an. Dieser Ort hatte bewirkt, dass die Gefühle sich von mir verabschiedet hatten und ich nicht mehr einordnen konnte, ob ich das richtige tat oder einen großen Fehler beging.

Eine weitere Nacht war vergangen, in der ich mehr geweint als geschlafen hatte. Primärer Auslöser für meine Tränen waren nach wie vor das, was Lennox getan hatte. Aber wenn ich es schaffte, mich von ihm zu lösen, musste ich an meine Mutter denken.

In den letzten Wochen hatte ich sie nur selten besucht. Die Schule und Lennox hatten mich zu gleichen Teilen beeinflusst und wenn ich doch ein wenig Zeit für mich gehabt hatte, dann hatte ich mich meist nicht getraut, an ihr Grab zu fahren. Es stellte den einzigen Ort da, an dem ich mich wirklich noch mit ihr verbunden fühlen konnte. Allerdings hatte ich das Gefühl gehabt, ein Besuch bei ihr würde uns nichts nützen. Ich hatte mir immer eingeredet, dass es erst wieder wichtig wäre, zu ihr zu gehen, wenn sich ihr Tod aufgeklärt hätte. Ich hatte nicht mit leeren Händen zu ihr gehen wollen, auch wenn ich wusste, dass das nur eine Ausrede gewesen war. In Wirklichkeit hatte ich einfach Angst gehabt, die Gefühle würden mich übermannen und ich würde die Fortschritte, die ich langsam machte, wieder verlieren.

Nachdem sich nun alles auf unschöne Weise geklärt hatte, wurde der Drang in mir stärker. Ich musste sie besuchen, sie über alles in Kenntnis setzen und ihr sagen, dass sie nun ihren Frieden finden konnte. Vielleicht hatte sie von den Ereignissen schon erfahren, vielleicht sogar früher als ich. Aber ich wusste, dass sie es von mir hören sollte. Und allem voran musste ich mich bei ihr entschuldigen.

„Cartia, wollen wir? Ich glaube nicht, dass der Schnee in den nächsten Stunden aufhört. Es soll eher schlimmer werden." Über die Mittelkonsole hinweg griff meine Freundin nach meiner Hand.

Sanft umfassten ihre zierlichen Finger meine Hand und versuchten mir das Gefühl von Sicherheit zu geben. Ich schätzte es, dass sie mein Zögern nicht weiter thematisierte und stattdessen das schlechte Wetter dafür verantwortlich machte, dass ich mich zierte. Wo wir doch beide wussten, dass mir dieses völlig egal war.

Schwach nickte ich, drückte ihre Hand noch einmal und machte mich dann an dem Sicherheitsgurt zu schaffen, den ich endlich löste.

Zögernd öffnete ich die Tür und kalte Novemberluft strömte automatisch in den Wagen, um mich erschaudern zu lassen.

Noch bevor ich einen Fuß auf die beschneite Straße gesetzt hatte, zog ich mir die Kapuze ins Gesicht. Meine zitternden Hände vergrub ich in den Taschen meines Mantels und umklammerte dabei das hölzerne Herz in meiner rechten Hand nur fester.

Alaia sperrte den Wagen ab und schloss schließlich zu mir auf, um mich den Weg nicht alleine bestreiten zu lassen. Vorsichtig hakte sie sich bei mir unter, während wir auf dem weißen Untergrund eine Mauer und mehrere Reihen passierten, an denen sich Grabsteine die Hände reichten.

Meine Schritte waren langsam und ich merkte immer mehr, wie ich die Führung aus der Hand gab. Anfangs hatte sich Alaia an mein Tempo und meine Richtung angepasst, mittlerweile war sie diejenige, die mich steuerte und dafür sorgte, dass ich überhaupt einen Fuß vor den anderen setzte.

Paralyzed | ✓Where stories live. Discover now