Kapitel 5

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Für einige Sekunden standen wir stumm da, ohne einen Muskel zu bewegen. Ich konnte den Blick nicht von ihren starren, milchigen Augen abwenden, die wie um Hilfe flehend nach oben gerichtet waren. Noch vor wenigen Stunden hatten wir miteinander gesprochen.

„Sie war gestern in Geschichte und Botanik mit mir", murmelte ich wie betäubt.

„Komm, lass uns gehen", meinte Avna heiser und ich bemerkte, dass einige Professoren damit begonnen hatten, die Umstehenden wegzuschicken.

Wie in Trance ließen wir uns vom Strom den Flur hinabtreiben, ohne ein Wort zu sprechen. Das Schicksal der Lichtalbin lag uns schwer im Magen; an das verlorene Abendessen konnte keiner von uns denken.

Ich schluckte hart, als ich daran dachte, dass ein Mörder an der Akademie sein musste. War es ein Außenseiter gewesen? Würde man ihn fangen? Schneller als ich es gutheißen konnte, sprangen meine Gedanken von der Lichtalbin über zu ihrem Mörder und unser aller Sicherheit.

Avna hatte derweil ihren Wohnungsschlüssel herausgekramt und steckte ihn mit zitternden Fingern ungeschickt ins Schlüsselloch. Ich wartete geduldig, bis sie es geschafft hatte, die Tür für uns zu öffnen. Als wir unsere Wohnung still und unverändert vorfanden, atmeten wir beinahe synchron aus.

„Das Abendessen können wir wohl vergessen."

Ich fragte mich im Stillen, wie sie gerade ans Essen denken konnte, aber sagte nichts. Avna trat gegen eine herumliegende Tasche, aus deren Inneren einige Blätter segelten und sich zu dem restlichen Krimskrams gesellten, der den Boden in ihrer nächsten Nähe bedeckte.

„Lass dich von seinem adretten Schein nicht täuschen, Edwin ist die Quelle dieser Unordnung", beschwerte sie sich leise und kramte zwei Tassen aus dem Schrank. Das Feuer, das sonst in ihren Augen brannte, war erloschen. „Aber mit ihm darüber zu diskutieren ist sinnlos. Kakao?"

Ich nickte und warf einen raschen Blick auf mein Handy, das vibriert hatte. Ich war nicht in der Stimmung dafür, mich von meiner Familie nerven zu lassen – und außer ihnen gab es niemanden, der mich kontaktieren würde. Ohne die Nachricht zu öffnen oder eingehender darüber nachzudenken, wie traurig diese Tatsache war, steckte ich das Handy wieder weg und stemmte mich auf die Theke.

Avna drückte mir eine dampfende Tasse in die Hände, die ich bereitwillig entgegennahm. Die braune Flüssigkeit darin roch verführerisch nach Karies und Diabetes.

„Danke."

Ich nahm einen großen Schluck. Die heiße Flüssigkeit brannte auf meiner Zunge, aber konnte die Bilder von vorhin nicht verdrängen. Ein Schuss Rum wäre genau das richtige in dieser Situation gewesen, aber ich erinnerte mich daran, dass Alkohol an der Akademie verboten war.

Still nippten wir an unseren Kakaos. Avna bekam wieder Farbe in ihre Wangen, während sie abwechselnd trank und aufräumte. Ich sah ihr in Gedanken versunken dabei zu, wie sie schmutziges Geschirr in den Geschirrspüler pfefferte. Sie bat nicht um Hilfe und ich hatte das Gefühl, dass sie auch keine wollte.

Unser kurzer Frieden wurde jäh von dem Aufschlagen der Tür unterbrochen. Der Hotelbesitzer hatte die Tür mit Wucht aufgeschlagen und mit ihm kam Edwin herein, unverändert entspannt. Leichen und Blut sind für ihn nichts Neues, mutmaßte ich.

„Wisst ihr schon ...?", begann Lysander, doch ich schnitt ihm mit einem raschen „Wir waren dort" das Wort ab.

„Dass so etwas an der Akademie passieren kann, ist schwer zu glauben. Wir haben vielleicht keine modernen Überwachungs- oder Sicherheitssysteme, aber das Gebäude ist randvoll mit Magienutzern. Irgendjemand muss doch etwas mitbekommen haben."

Die Akademie der Lichtalben - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt