Kapitel 27

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Nachdem ich mich aus meiner Schockstarre gelöst hatte, folgte ich Avna zu demselben Krankenzimmer, in dem ich nach meinem Schwächeanfall aufgewacht war. Damals war mir bewusst gewesen, worauf ich mich einließ, wenn ich keine Energie bekam, aber heute wusste ich nicht, was mich hinter dieser Tür erwartete.

Avna bemühte sich, keine Zeit zu verlieren, und ich hatte Mühe, Schritt mit ihr zu halten. In Gedanken sah ich Temis vor mir, wie sie nach Lhians Tod auf mich zugekommen war; sie war dazu bereit gewesen, mich im Namen des Kreises aus dem Weg zu räumen.

Unterbewusst ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich hatte mich offen gegen sie gestellt und versucht, ihr das Handwerk zu legen, aber welcher Verbrechen gegen den Kreis hatte Lysander sich schuldig gemacht? Genügte es ihnen, dass ich mich in seiner Nähe aufgehalten hatte?

Dabei ist er derjenige gewesen, der mir von eigenen Nachforschungen abgeraten hat, erinnerte ich mich.

Die weiße Tür des Krankenzimmers tauchte vor uns auf wie ein ungeladener Gast. Am liebsten hätte ich umgedreht und die Situation ignoriert, aber das war nicht möglich. Gleich, was mich im Inneren des Raums erwartete, ich musste mich den Konsequenzen meiner Entscheidungen stellen.

„Erys. Können wir hinein?" Avnas Stimme weckte mich aus meinen verkrampften Grübeleien, indem sie eine Hand auf meine Schulter legte.

Der Kloß in meinem Hals wuchs, aber ich nickte und öffnete die Tür. Avna wollte direkt hinstürzen, doch die Schulärztin fing sie ab.

„Ich möchte, dass ihr mir gut zuhört", begann sie mit ernster Stimme, die nichts Gutes verhießen ließ. „Ich weiß, dass ihr Lysanders Freunde seid, aber es ist wichtig, dass ihr Ruhe bewahrt. In seinem Zustand kann er keinen Aufruhr gebrauchen."

Ich holte, gefühlt zum ersten Mal seit ich den Raum betreten hatte, wieder Luft.

„Er lebt also", krächzte Avna erleichtert und sprach damit meine eigenen Gedanken aus.

Der Gesichtsausdruck der Ärztin war schwer zu deuten. „Ich will ehrlich zu euch sein: Ich kann seine Chancen nicht einschätzen." Als sie bemerkte, dass sich meine Augenbrauen zusammenzogen, hob sie eine Hand. „Er ist bestmöglich versorgt worden, aber alles deutet darauf hin, dass er von einem Sukkubus angegriffen worden ist – und leider ist unser Wissen auf diesem Gebiet begrenzt."

Bei ihren letzten Worten blickte sie rasch zu mir, als ob sie sich eine magische Lösung erhoffen würde, aber ich konnte nur verlegen zu Boden sehen. Ich hatte gelernt, Einblick in die Erinnerungen anderer zu erhalten, aber die Fähigkeiten, Manipulationen aufzuheben oder Energie wiederherzustellen, besaßen keinen Nutzen für eine Gründerin.

Langsam näherte ich mich dem Bett, auf das Avna gesunken war. Der Anblick von Avna, die über Lysander kauerte, verpasste mir einen Stich. Der Teint ihres Gesichts näherte sich zunehmend dem Reinweiß der Bettlaken an. Wie lange kannten sich die beiden?

Als Außenseiterin blieb ich abseits stehen und schlang die Arme um meine Mitte, während ich das leichte Zittern von Avnas Händen beobachtete. Mir fehlten die richtigen Worte, um sie aufzumuntern – aber vermutlich gab es keine.

Anstelle dessen, scholl die kühle Stimme der Ärztin durch das Zimmer. Sie glich Eiswasser an einem stickigen Sommermorgen. „Bitte berührt ihn nicht. Die Wunde ist noch gespickt mit Berührungsmagie."

Meine Augen wanderten über den dicken Verband, der unter der Bettdecke hervorlugte. Unsere Angriffe hinterließen über Jahre hinweg ihre Spuren an den Opfern; Zephael hatte sie eine Warnung an Nachkommende genannt und stolz erklärt, wonach ich in dem Energiegefüge Ausschau halten müsste.

„Ich würde helfen, wenn ich könnte", murmelte ich, ohne den Blick davon abzuwenden. Leider begann und endete mein Wissen mit Zephaels Prahlerei – als widerwilliges Mitglied des Kreises hatte mir niemand die Türen zu den alten Werken und Aufzeichnungen geöffnet. Waren die Spuren nur eine Warnung oder mehr?

Die Akademie der Lichtalben - Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt