Mariá

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Lene
Sie kam am Morgen, am Mittag und am Abend. Jedesmal hielt die kleine alte Dame ein Tablett in der Hand mit einer Kleinigkeit zu Essen und einer Flasche Wasser. Außerdem schenkte sie mir zu jedem ihrer Besuche ein warmes Lächeln, als säße ich in einem netten Hotelzimmer fest und nicht in der wahr gewordenen Hölle. Inzwischen hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich konnte schon über eine Woche hier gefangen sein, oder auch nur ein paar Tage. Sobald ich alleine war, gab ich mich ein paar Sportübungen hin: Kniebeugen, Sprints auf der Stelle oder Liegestütze. Sollte der Moment gekommen sein, an welchem ich fliehen konnte, wäre ich bereit. Wenn es sein muss, würde ich sogar die alte Dame umrennen. Doch sie war geschickt und ausgezeichnet instruiert. Sie bat mir keine Gelegenheit zur Flucht.

Wie üblich glitten meine Gedanken in der Einsamkeit zu Alien, meinem Vater, Randi und sogar zu meiner Mutter. Hilfe war unterwegs, da war ich mir sicher! Doch bis ein Rettungstrupp hier eintraf, konnte es durchaus noch eine ganze Weile dauern. Ein Zeitvertreib musste her, doch die alte Dame sprach leider eine mir völlig fremde Sprache, weswegen sich ein Gespräch schwierig gestaltete. Immerhin war sie kein schlechter Mensch. Klar, sie war Teil des grausigen Plans, mich hier auf kurz oder lang festzuhalten, doch die Art und Weise wie sie mich behandelte führte zu dem Schluss, dass zumindest sie keine bösen Absichten hegte. Wer weiss, was Alec oder Pascal ihr erzählt hatten, was meine Wenigkeit betraf.

Für heute erschien die Dame zum zweiten Mal, vermutlich war es Mittag. Diesmal servierte sie mir eine Portion trockene Nudeln, sowie eine kleine Kanne mit Gemüsebrühe und die obligatorische Flasche Wasser. Ich bedankte mich versuchshalber aus englisch und französisch und erhielt nur einen verwirrten Blick, gefolgt von einem sanften Lächeln. Ich deutete auf den Platz neben mir auf der Pritsche. Vielleicht würde sie mir etwas Gesellschaft leisten. Zunächst schien sie unschlüssig über mein Angebot zu sein, doch letztendlich nahm sie an.

Während ich lustlos in den Nudeln stocherte, betrachtete ich meine Sitznachbarin von der Seite. Ihr stark ergrautes Haar hatte sie ordentlich zurückgekämmt und mit einer perlmuttfarbenen Klammer am Hinterkopf befestigt. Ich erinnerte mich an meine Oma, die mit der selben Methode ihre kahlen Stellen gekonnt versteckte. Ich musterte jedes Detail, vom Kopf bis zu den Füßen. So bemerkte ich auch ihren eleganten Kleidungsstil, eine helle Bluse aus feinem Stoff, umrahmt von einer Strickjacke und einer beigefarbenen Hose. Mein Blick blieb an ihren Fingern kleben. Rissige, faltige Hände und raue Fingerkuppen.
„Sie stricken?", fragte ich freundlich. Auf den verständnislosen Blick der Frau führte ich ein paar Handbewegungen vor, als würde ich zwei Nadeln schwungvoll ineinander verhaken.

Ein strahlendes Lächeln glitt über ihr runzliges Gesicht. „¡El tricotaje!", rief sie freudig und ich nickte fröhlich, auch wenn ich mir nicht sicher war ob wir tatsächlich von der gleichen Sache sprachen.
„Bestimmt!", entgegnete ich lachend und nutzte die aufgelockerte Stimmung um persönlichere Themen anzuschlagen. Eine Verbündete konnte mir nicht schaden. Vielleicht erfuhr ich durch sie mehr über meine aktuelle Situation.

Mit dem Finger deutete ich auf mich selbst und erklärte: „Lene."
Sie umfasste meinen Finger mit ihrer eigenen Hand, strich mir mit der anderen über die Wange und sagte beinahe flüsternd: „Mariá."
Ich nickte und genoss ihre Berührung. Meine Oma war schon vor langer Zeit verstorben, doch diese Frau erinnerte mich wahnsinnig an sie. Wir hatten einfach einen Draht zueinander.
Ohne mir Gedanken darüber zu machen, lehnte ich mich an ihre Halsbeuge und schloss die Augen. Mariá strich ohne zu zögern vorsichtig durch mein Haar und begann eine mir fremde Melodie zu summen. Genießerisch atmete ich ihren Duft ein, eine Mischung aus Sandelholz und Mottenkugeln. Allein schon ihre Präsenz gab mir ein Gefühl von Geborgenheit, ich konnte all meine Probleme ausblenden.

Doch die Entspannung wich schnell Anspannung, als die Situation von stampfenden Schritten jäh unterbrochen wurde. Eine weitere Person würde zu uns stoßen, doch ich ahnte nichts gutes. Mariá schien es ähnlich zu ergehen. Ihre Finger verkrampften sich in meinem Haar und sie löste sich von mir, stand mit einer Geschwindigkeit auf, die ich ihr nicht zugetraut hätte und nahm das Tablett mit dem kaum angerührten Essen an sich.

Die Tür stöhnte auf und ließ Alecs furchteinflößende Gestalt eintreten. Sofort war die Luft um uns herum wie elektrisiert. Mariá und ich sahen unseren Gegenüber fragend und auch ein bisschen ängstlich an, doch sein Blick ruhte nur auf mir. Ohne von mir abzulassen deutete er zur Tür und mit einem leisen Wimmern lief Mariá schnellen Schrittes hinaus. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ich war nun alleine in meinem Gefängnis mit dem Mann, den ich auf der Welt am meisten fürchtete. Pascals Absichten waren vorhersehbar, doch Alec konnte niemand durchschauen.

Er lächelte, oder spielte das Dämmerlicht mir einen Streich?
„Lene...", begann er und bewegte sich langsam auf die Pritsche zu. Nervös rutschte ich auf meinem Platz etwas nach hinten, doch eine großartige Ausweichmöglichkeit war mir nicht vergönnt und ich stieß gegen die kühle Wand.
„Hast du etwa Angst?", fragte er süffisant und rutschte noch näher an mich heran.
Ja verdammt, ich hatte eine scheiß Angst! Und das wusste er ganz genau. Wie er es genoss mich leiden zu sehen. Er konnte tun und lassen was er wollte, wer versprach mir, dass ich tatsächlich hier wieder rauskäme?

Wenn ich klein bei gab, würde er meine Schwäche ausnutzen an jedem verdammten Tag den ich noch hier verbringen musste. Ich durfte mich auf keinen Fall selbst belügen, deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen, richtete mich auf und forderte: „Geh weg!"
Alec schien mich nicht recht verstanden zu haben, denn er sah mich nur ausdruckslos an und reagierte nicht. Ich wiederholte mich mit festerer Stimme und wartete auf eine Reaktion. Die Stille waberte um uns herum und beinahe glaubte ich, ich hätte alles nur geträumt.

Doch er hatte mich verstanden, jedes Wort, klar und deutlich. Offenbar gefiel es ihm garnicht.

Zu meiner Zeit mit Pascal hatte ich Alec oft erlebt, wie er seine Position besonders mit Lautstärke vertrat. Viele seiner Angestellten spührten des Öfteren seinen Zorn und lernten so, ihm zu gehorchen. Egal wie ungerecht eine Rüge auch war. Ob Alec auch körperlich wurde? Mit Sicherheit, obwohl ich noch nie einen Beweis dafür gesehen hatte. Bis jetzt.

Ich konnte nicht einmal so schnell denken, wie Alec plötzlich seine Arme nach mir ausstreckte. Seine Finger legten sich um meinen Hals und ich realisierte augenblicklich, dass es nun zu spät war. In seiner Welt hatte ich eine Grenze überschritten, hatte ihn zurechtgewiesen.

„Du kleine Schlampe!", brüllte er und schnitt mir die Luftzufuhr ab. Ich röchelte, unfähig mich zu wehren. Hilflos hing ich in seinem Griff und blickte in die wutverzerrten Augen des Kerr Oberhauptes, bereit, für mein 'Vergehen' geradezustehen. Als beflügelten ihn übermenschliche Kräfte, stieß er mich von sich weg und ich landete hart mit dem Kopf an der Wand. Mein Schädel schmerzte und der aufkommende Schwindel ließ das Szenario vor meinen Augen verschwimmen, doch mein Empfinden trübte es zu meinem Bedauern nicht.

Erneut packten mich seine groben Hände, diesmal an den Handgelenken. Wild schleuderte er mich durch den Raum, brüllte wie ein Tier und sorgte dafür, dass ich hin und wieder gegen diverse Eineichtungsgegenstände stieß. „Denkst du, du kannst mir sagen, was ich tun und lassen soll? Du Dreckstück!"
Ich schnappte nach Luft, versuchte soviel Leben wie möglich aufzusagen.

Wieder ein dumpfer Aufprall. Lag ich auf dem Boden? Ich konnte es nicht einmal mehr richtig einschätzen. Lediglich Alecs Gesicht sah ich klar und deutlich vor mir, es hatte sich längst in mein Gehirn eingebrannt, wie ein gefährlicher Parasit. Faustschläge trafen mein Gesicht, unendlich viel Hass prasselte auf mich ein. Verzweifelt versuchte ich alles auszublenden und schaltete ab, dachte nurnoch an Mariás Duft und die wohltuende Umarmung, bis mir endgültig schwarz vor Augen wurde.

Erdt Stunden später erwachte ich aus meiner Ohnmacht. Mein Körper schmerzte, sodass es mir Tränen in die Augen trieb. Ich hatte eindeutig ein Déjà- vu! Mühsam richtete ich mich auf, hoffte auf eine Schmerztablette in meiner Reichweite, doch ich wurde enttäuscht. Lediglich ein hölzernes Tablett stand zu meiner linken auf dem Boden und trug ein Laugengebäck und Nudelsuppe.
„Mariá!", hauchte ich, wohl wissen, dass mich niemand hören würde.

When Worlds CollideWhere stories live. Discover now