Na dann Prost!

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Randi
Wieso hatte ich nicht an eine Aspirin gedacht? Der Kater von vergangener Nacht machte mir immernoch sehr zu schaffen. Kopfschüttelnd trat ich auf die staubige Straße und hielt mir die Hand vor das Gesicht. Die Sonne stach in meine Augen und zwang mich dazu sie zusammen zu kneifen. Unruhig blickte ich mich um. Der Streit mit meiner Mutter saß noch immer tief in meinen Knochen. Auch wenn ich das nie zugeben würde, aber ich hasste es sie so aufgelöst zu sehen.

Irgendwie hatte sie ja auch recht. Seit mein Vater nicht mehr bei uns war, lebten wir alle ein anderes Leben. Wie in einem Paralleluniversum wandelten wir durch unseren ehemaligen Alltag und fanden uns mehr schlecht als recht in neue Rollen ein.

Mein Brustkorb hob und senkte sich vor Anspannung. Noch ein letzter Blick zur Wohnung. War das Augustíns Schatten am Fenster? Sachte hob ich meine Hand um ihm zu versichern dass alles in Ordnung war. Noch eine Lüge.

Der Schatten verschwand so schnell wie er gekommen war. Frustriert fuhr ich mir durch mein dunkles Haar und lief los, ohne wirklich zu wissen wohin mich mein Weg führen würde. Der Lärm der Villa 13 machte mich beinahe wahnsinnig, denn ich schaffte es nicht einen klaren Gedanken zu fassen. Ständig blieb ich stehen oder irrte orientierungslos durch die Gassen, die von Müll überlagert waren. Resigniert hielt ich im Schatten eines blechernen Bungalows an und beobachtete ein kleines Mädchen, etwa vier Jahre alt, das mit einer Plastikflasche spielte.

Das Gefühl von Machtlosigkeit verstärkte sich in mir. Am liebsten wäre ich auf das Kind zugelaufen und hätte ihr richtiges Spielzeug gekauft. Doch von welchem Geld? Wie viele Kinder lebten noch in dieser Armut?

Mein Mund fühlte sich staubtrocken an und ich wandte meinen Blick ab. Ich drehte mich um und lief weiter, ließ meine Gedanken zusammen mit dem kleinen Mädchen zurück. Immer weiter geradeaus, schau nicht hinter dich!

Ohne es wirklich zu bemerken drang ich in den Kern des Viertels vor, der mit Abstand kriminellste Teil überhaupt. Ich weiß nicht was mich bewegte dorthin zu gehen. Vielleicht eine innere Stimme, ein Fluchtinstinkt?

Schon von weitem erkannte ich die ehemalige Lieblingsbar von meinem Vater und mir. Sie war etwas größer als die übrigen Gebäude außenrum und wurde von einem ausladend großen Vordach in grellem orange überdeckt. In großen geschwungenen Leuchtbuchstaben stand „¡menuda paliza!" auf einer Glasfront, direkt neben der Eingangstür. Nadann Prost, dachte ich bitter. Früher war diese Bar unser zweites Zuhause gewesen. Jede freie Minute hatte ich hier verbracht, selbst als Kind hatte ich schon hier gespielt. Kein Wunder, denn vor nicht allzu langer Zeit war das noch unsere Bar gewesen. Mein Vater hatte damals eine Vision von einem Zufluchtsort für die Menschen. Er nahm ihnen ein Stück Sinnlosigkeit, hatte immer ein offenes Ohr und Ratschläge parat. Der Betrieb lief hervorragend. Mamá und ich hatten keine Probleme. Irgendwann kam Augustín dazu und unsere Welt schien perfekt.

Wütend spuckte ich auf den Boden. Es hatte sich so rasant geändert das ich nichts hätte verhindern können. Alles wurde mir aus der Hand gerissen. Mein Vater hatte im Gegensatz zu seiner Familie nicht verstanden dass er bereits der glücklichste Mensch weit und breit war. Er lechzte nach mehr.

Ich erinnere mich genau, ich stand hinter dem Tresen und putzte ein paar Gläser. Wie immer am Wochenende war „¡menuda paliza!" gut besucht und mein Vater hatte Mühe alle Bestellungen aufzunehmen. Wie ein Verrückter rannte er von einem Tisch zum nächsten, wie auch seine Aushilfe Manuela. Ich war damals 18 Jahre alt und glaubte so vieles zu verstehen. Wie sehr ich mich doch geirrt hatte.

In meiner Erinnerung wurde die Luft urplötzlich kälter. Man konnte in jeder Faser des Körpers fühlen dass Unheil drohte. Dann traten sie ein. Drei Männer im mittleren Alter, gekleidet in edlen Anzügen. Sie hatten sich nur kurz umgeschaut, dann hatten sie meinen Vater entdeckt. Für eine ganze Weile waren sie im Lagerraum verschwunden. Beinahe dachte ich sie kämen nicht mehr heraus. Ich traute mich nicht zu lauschen, zu angespannt wirkte die ganze Situation. Dorch irgendwann verließen sie ihr Versteck, beide Parteien mit einem siegessicheren Grinsen auf dem Gesicht. Ich weiß genau wie mein Vater zu Hause überschwänglich meine Mutter küsste und Augustín auf den Arm hob. Er tanzte mit ihm durch die Wohnung bis er außer Atem stehen blieb. Dabei sah er mich an und rief strahlend: „Bald kommen wir hier raus Randi!"

Die Bedeutung dieses Satzes hatte ich nie verstanden. Damals dachte ich, es wäre egal wo wir lebten, hauptsache wir wären zusammen. Mein Vater war hingegen überzeugt uns alle aus dem Viertel herauszuschaffen. Letztendlich ist er der Einzige der von hier wegkam.

Es ist noch nicht lange her, nur ein paar Monate. Die Hitze war unerträglich und die Schwüle brachte unseren Kreislauf durcheinander. Doch an Ausruhen war nicht zu denken. Wir arbeiteten schnell und effizient um alle Kunden glücklich zu machen. Unser Arbeitsfluss wurde lediglich durch laute Stimmen unterbrochen, die von außen in die Bar drangen. Nie hatte es hier Probleme gegeben. Zu groß war die Freude, die den Menschen der Zufluchtsort brachte. Folglich kümmerten wir uns nicht darum. Doch dann hörten wir Reifenquietschen und einige Gäste wurden unruhig. Mein Vater, aufgeschreckt von dem plötzlichen Wirbel verließ den Laden.

Schüsse, Schreie, Angst.
Ein eindringlicher greller Ton in meinen Ohren. Ich sah mich selbst wie ich hinausrannte und nur noch die Rücklichter eines silbernen SUVs ausmachen konnte, der hinter sich eine Staubwolke herzog. Erst als der Staub sich legte erkannte ich die Gestalt vor mir auf dem Boden, die Arme seltsam verdreht.
Sie hatten meinen Vater erschossen.

Seitdem drehte sich die Erde nur noch in Zeitlupe. Eine einsame Beerdigung, die stummen Tränen meiner Mutter und die Besetzung unserer Bar durch die Menschen die meinen Vater eigentlich unterstützen sollten. Er hatte den falschen Menschen vertraut. Ein Grund für mich niemandem mehr zu vertrauen. Ich fühlte diese unbändige Wut in mir gegen dieses System, das so wenig Gerechtigkeit zuließ, und gegen meinen Vater, weil er so dumm gewesen war. Immernoch betitelte meine Mutter ihn als Heiligen, doch in Wirklichkeit hatte er uns verlassen.

Ich ballte meine Hände zu einer Faust und kaute auf meiner Unterlippe. Als ich den blutigen Geschmack vernahm, konnte ich nicht mehr an mich halten. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht lief ich entschlossen quer über die Straße, ignorierte hupende Kleintransporter die wegen mir scharf bremsen mussten und hielt starken Schrittes auf die Bar zu. Niemand konnte mich stoppen, niemand würde jetzt verhindern dass ich die Bar stürmen und allen den Hals abschneiden würde. Niemand bis auf-

„Randi!"
Der spitze Schrei schreckte mich aus meinen fanatischen Rachegedanken auf. Sofort blieb ich stehen und spürte den bohrenden Blick in meinem Rücken.
Der Schrei galt Augustín, der mit rudernden Armen neben einem Häuserblock hervortrat. Natürlich fiel die Raserei augenblicklich von mir ab und ich rannte zu meinem kleinen Bruder. Schon von weitem erkannte ich glitzernde Tränen die ihm wie wertvolle Perlen über das Gesicht liefen.
„Wieso bist du nicht zu Hause?", fragte ich und ging vor ihm in die Knie um auf Augenhöhe mit ihm sprechen zu können.
„Du bist weggegangen, obwohl Mamá weint", schniefte er.

Behutsam legte ich ich ihm eine Hand auf die Schulter und schaute ihm eindringlich in die Augen.
„Du solltest nicht hier sein. Es ist zu gefährlich", raunte ich ihm zu.
„Hier ist Papá gestorben", wimmerte er und sein kleiner Körper zitterte bei jedem Wort.

„Ich weiß, ich weiß", redete ich in beruhigendem Tonfall auf ihn ein und zog ihn zu einer langen Umarmung an mich. „Ich bringe dich nach Hause", murmelte ich leise gegen sein krauses Haar und richtete mich auf. Reflexartig griff Augustíns Hand nach meiner, als würde er sich wie ein verzweifelter Seefahrer kurz vor dem Ertrinken an einen Rettungsring klammern. Ich zog ihn stumm hinter mir her und wusste ohne mich umzudrehen ganz genau dass sein Blick immernoch an der Bar klebte.

Innerlich seufzte ich. Augustín brauchte einen großen Bruder, ein Vorbild. Was konnte ich für ihn schon tun? Als Vorbild war ich absolut ungeeignet.

Je mehr ich über das Rätsel der bevorstehenden Zukunft nachdachte, desto weiter rückte der Mord an meinem Vater in die Vergessenheit. Es war sinnlos weiter über die Vergangenheit zu grübeln. Wichtig war die Zukunft und mein Bruder. Doch wie sollte ich ihn beschützen wenn ich nicht einmal meinen Vater hatte schützen können?

When Worlds CollideWhere stories live. Discover now