Der Prinz im weißen Ford Focus

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Das durfte doch nicht wahr sein!
Entschlossen drückte ich auf die Hupe, wieder und wieder. Die Autoschlange vor mir bewegte sich kein Stück. Panisch blickte ich auf die Uhr. Mittlerweile war es halb neun. Ich war eindeutig spät dran. Wer weiß ob Lene vielleicht genau in diesem Augenblick meine Hilfe benötigte? Der Gedanke daran ließ mich erschaudern.

Dabei hatte alles so gut angefangen!
Alien war einfach zu süß und neugierig, weshalb er ohne Anstalten mit mir mitgekommen war. Mit großer Begeisterung hatte er Diegos Wohnung gestürmt und es als sein eigenes Reich auserkoren- zumindest vorrübergehend. Lene und ich dachten uns, es wäre vermutlich sicherer für Alien, das Haus für ein paar Tage zu verlassen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Alien gefiel der Urlaub und Diego und Anisa waren hin und weg vom kleinen Fellknäuel. Sie waren so sehr mit Knuddeleien und Babysprache beschäftigt, dass ihnen nicht einmal mein Verschwinden aufgefallen war.
Still und leise hatte ich mir die Autoschlüssel von der kleinen Kommode genommen und hatte die Wohnung verlassen.

Es hatte mich zunächst einige organisatorische Überlegungen gekostet, meinen grauen Rucksack zu packen. Schlussendlich hatte ich mich für ein Fernglas, eine Taschenlampe und ein Taschenmesser entschieden. Ich bin Randi Romero! Was sollte ich sonst noch benötigen außer meinen genialen Verstand?

Der einzige Schwachpunkt im Plan erschien mir bis vor wenigen Minuten lediglich der Teil mit Diegos Auto. Ich hatte keinen Führerschein und keinerlei Fahrerfahrung. Aber ich hatte oft Formel 1 gesehen, zusammen mit Joey. Allzu schwer konnte es doch nicht sein ein Auto zu fahren!

Ganz schön naiv von mir...

Beinahe hätte ich den Vorgarten komplett zerstört. Nicht meine Schuld, die verschieden Pedale hätte man ja auch beschriften können!
Demnach musste ich experimentieren. Nach anfänglichem Stottern und Holpern hatte ich den Bogen raus- mehr oder weniger.
Natürlich muss man erfähnen, dass Diegos Ford Focus einem Dinoknochen ähnelte: uralt und gebrechlich.
Anscheinend fuhr Diego sein Auto ständig mit schleifender Kupplung, weshalb mir das Ding ein paar Mal ausging, als ich versuchte so behutsam wie möglich anzufahren.
Doch auf der Straße hatte das Ganze schon besser funktioniert. Ich war zuversichtlich.

Doch dann das: eine Straßensperrung! Ausgerechnet in der Straße, in welcher Lene ihr dubioses Treffen hatte.

Angespannt trommelten meine Finger auf dem abgenutzten Lenkrad herum und atmete hörbar die Luft aus. Erregt durch den Windzug baumelte der Limone- Pfirsich Duftbaum am Rückspiegel in einem wilden Tanz. Wieso ging es denn nicht weiter?
Einige Autofahrer vor und hinter mir waren bereits ausgestiegen. Manch einer telefonierte und gestikulierte wild, andere liefen einfach nur abwartend zwischen den stehenden Autos umher und ich drückte einfach weiter auf die Hupe. Dafür erntete ich jede Menge genervte und verständnislose Blicke.

Sie verstanden meinen Groll nicht. Wie sollten sie auch?
Ein weiterer Blick auf die Uhr. Verdammt, ich müsste bei Lene sein, vor dem Restaurant auf den Mistkerl warten um ihm eine runterzuhauen.

Es nützte nichts. Wenn ich mit dem Auto nicht vorwärts kam, musste ich eben zu Fuß gehen!
Kurzerhand sprang ich aus dem Wagen, schnappte beim Aussteigen nach meinem Rucksack, sperrte vorsorglich ab und rannte.
Vorbei an grauen, weißen, schwarzen und bunten Autos, gefüllt mit Geschäftsleuten auf dem Weg nach Hause, quengelnden Kleinkindern und gestressten Hausfrauen. Sie alle schienen mich mit ihren Augen zu verfolgen.
Warum rennt der Mann nach vorne?
Einige kletterten neugierig aus ihren Wagen um mit gestreckten Hälsen zu sehen, was es dort wohl spannendes geben könnte.

Ohne Rücksicht auf manche Zurufe lief ich unbeirrt weiter. Lene brauchte mich!

„Hey, Sie dürfen hier nicht weiter gehen! Haben Sie das Schild nicht gesehen? Der Zutritt ist hier verboten!"
Irritiert sah ich mich nach allen Seiten um. Mit hektischen Schritten lief ein bärtiger kleiner Mann in orangenem Overall auf mich zu. Sein Marsch strengte ihn offensichtlich sehr an. Sein Gesicht war bereits rot angelaufen und er schwitzte, als er letztlich mit erhobenem Zeigefinger vor mir stand.
„Gehen Sie bitte wieder zurück. Die Polizei wird in Kürze den Verkehr regeln.", schnaufte er atemlos.
„Ich kann nicht warten, bitte, ich muss hinter die Absperrung.", flehte ich eindringlich. Offenbar traf ich auf taube Ohren.
„Was immer es ist, es muss warten!"
Sein Ton klang endgültig.
„Hören Sie mal zu, unter der Straße ist ein Rohrbruch. Das Wasser hat den gesamten Erdboden aufgeweicht. Das Betreten dieses Gebiets ist höchst gefährlich und daher strengstens untersagt."
Ich zog einen Flunsch.
Zufrieden nickend drehte sich der Bärtige zum Gehen um. Er war überzeugt, sich genügend Respekt verschafft zu haben.

Nicht mit mir!
Entschlossen drückte ich die Absperrung beiseite und zwängte mich so gut es ging daran vorbei. Noch bevor der Bärtige überhaupt registrierte was hier vor sich ging, hatte ich längst ein paar Schritte über das unebene Gelände gewagt. Komisch, der Boden fühlte sich eigentlich ganz normal an!
Verwundert beschleunigte ich das Tempo, fühlte den guten Halt unter meinen Füßen. Eine ganz normale Straße.

„Komm sofort zurück!", brüllte es da schon hinter mir. Flink wie ein Wiesel sprintete ich weiter. Der gesperrte Straßenabschnitt war fast zu Ende und der kleine Bauarbeiter hatte längst aufgegeben mich zu verfolgen.
Über die zweite Absperrung hechtete ich mit einem gewagten Sprung, der das Innenleben meines Rucksacks ordentlich durchschüttelte.
Adrenalin schoss durch meine Venen. Ich fühlte meinen Schädel unter dem Einfluss meines Pulses pochen.
Nicht nachlassen, flüsterte eine Stimme eindringlich in mir.

Ein Straßenschild flog an mir vorbei. Der kurze Blick den ich darauf erhaschen konnte genügte um mir zu versichern, dass ich in der richtigen Straße war. Jeden Moment konnte das indische Restaurant in meinem Sichtfeld auftauchen. Vielleicht war es noch nicht zu spät!
Meine Beine liefen immer schneller. Kaum noch berührten meine Füße den Boden. Die Angst um Lenes Schicksal trieb mich zu höherer Geschwindigkeit an.

Dann sah ich ihn: den hässlichen deformierten Elefanten aus Plastik mit der extravaganten Verzierung. Ich stürmte darauf zu, rüttelte wie ein Wahnsinniger an den Türen. Sie blieben verschlossen. Panisch klopfte ich mit beiden Fäusten dagegen, schrie unentwegt Lenes Namen, doch nichts rührte sich. Hektisch lief ich an die große Frontscheibe, klopfte auch hier.
Die Stille um mich herum fraß mich geradezu auf, verwandelte sich in einen lauten verzweifelten Schrei. Es dauerte eine Weile bis ich bemerkte, das er meiner eigenen Kehle entstammte.
Hatte ich mich doch in der Straße geirrt? War es überhaupt ein Inder und kein Grieche? Chinese?

Frustriert glitt ich an der Fensterscheibe zu Boden. Ich angelte nach meinem Handy und gab kurz darauf zitternd Lenes Nummer ein. Der Anruf wurde prompt abgelehnt. Ihr Handy war aus. Ich schluchzte. Was war dort drinnen nur passiert? Die Angst brannte in meinem Rachen. Ich würgte.

Etwas schreckliches war passiert, das fühlte ich. Und besonders deutlich wurde mir, dass ich daran Schuld hatte. Ich ganz alleine hatte Lene im Stich gelassen!
Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag in den Magen.
„Lene?", rief ich noch einmal voller Verzweiflung, doch meine Stimme brach. Heraus kam ein undeutliches Krächzen.
Das Erdbeben in meinem Inneren wurde stärker. Hilflos klammerte ich mich an die Bordsteinkante, lag flach mit dem Bauch auf dem Boden.
Sie war fort. Pascal hatte sie sich genommen.

Die Welt um mich herum drehte sich. Ich fröstelte.
Das Erbeben verebbte, doch mein Herz zerbrach in 1000 Stücke.
Lene.

Die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg in die kühle Abendluft. Der Fluss wurde breiter und erweiterte sich zu einem reißenden Strom. Ich weinte um Lene und ihre reine Seele.

When Worlds CollideWhere stories live. Discover now