Villa 13

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Randi
Noch wenige Meter. Ich sah bereits das Blechdach des dreistöckigen Hauses, welches meine Familie und ich zur Zeit bewohnten. Wir lebten auf der obersten Etage zur Miete. Unter uns, in Stockwerk eins und zwei, lebten Hausbesetzer. Sie hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich dort eingenistet als die Vormieter starben- erschossen auf offener Straße, ganz alltäglich.

Ich kickte einen kleinen Stein vor mir her, der auf dem unbefestigten Weg lag und zielte auf den platten Hinterreifen eines alten, rostenden Autos, das vermutlich geklaut war. Das ist definitiv das Schöne an Villa 13, das Viertel, welches auch gerne als „villa miseria" bezeichnet wird: absolut alles ist echt. Sieht etwas geklaut aus, ist es mit Sicherheit geklaut. Sieht jemand gefährlich aus, ist er gefährlich und da hier absolut alles arm und trist aussieht- nun, das ist offensichtlich.

Mein Schuss traf und mit einem Lächeln auf den Lippen lief ich weiter.

Mit Schwung stieß ich die Tür auf, indem ich meine Schulter gegen das modrige Holz drückte, atmete den fauligen Geruch des Gebäudes ein, hustete und stieg die knarzende Treppe, die mich zu unserer Wohnung führte, hinauf. Eine abgemagerte Katze mit löchrigen Ohren und kahlen Stellen im Fell lungerte auf dem oberen Treppenabsatz herum. Ich trat nach ihr, verfehlte sie jedoch um Haaresbreite. Das Vieh fauchte und entfernte sich schleunigst von mir.
Die Tür zu unserer Wohnung stand offen und laute Musik schallte bis zu mir herüber. Beinahe bildlich konnte ich mir vorstellen wie mein kleiner Bruder Augustín wild durch die Wohnung sprang, Luftgitarre spielend, während er sich einbildete ein aufstrebender Rockstar auf einer großen Bühne zu sein.

Ich trat ein und schmunzelte, als sich mein Gedanke bestätigte. Wie von Sinnen sprang Augustín über das Sofa in verblasste Blautönen, hechtete auf das Spülbecken und wieder herunter, drehte sich im Kreis und warf dabei den Wäscheberg um, der eigentlich weggeräumt werden sollte. Beinahe ging eine Tasse zu bruch, als mein Bruder an dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums vorbeischrammte, doch ich konnte sie gerade noch mit einem Schritt nach Vorne auffangen.
Bevor noch mehr Zerstörung angerichtet werden konnte, hielt ich Mister Rockstar an seinen Schultern fest, der daraufhin perplex die Augen aufriss. Ihm stieg die Röte ins Gesicht, als er mich erkannte. Eindeutig war ihm bewusst dass ich ihn schon länger beobachtet hatte.

„¡Perdón!", stammelte er und blickte mich aus seinen braunen Kulleraugen bittend an.
„Entspann dich. Wir wissen alle dass du der geborene Superstar bist", sagte ich, wobei ich ein kehliges Lachen unterdrücken musste, eine Reaktion die nur er bei mir auslösen konnte. Er war manchmal einfach zu drollig.
„Dann werde ich dir all das Geld geben das ich verdiene, damit du für Mamá ein richtiges Haus kaufen kannst", krakeelte er strahlend.
Sein Optimismus in allen Ehren. Mit acht Jahren war ich auch einmal der Überzeugung gewesen, dass die Gerechtigkeit immer siegte und meine Familie hier rauskommen könnte. Diese Phase würde auch für Augustín enden. Irgendwann würde sein kindliches Denken von der Realität verdrängt werden.

„War Mamá schon hier?", fragte ich und stellte die Musik ab.
„Nein, aber ich habe sie vom Fenster aus gesehen, da lief sie zum Laden", murmelte mein Bruder. Er hatte eine neue Beschäftigung gefunden die daraus bestand, sich durch den umgekippten Wäschehaufen zu graben. Bald sah man kaum noch seine Zehenspitzen.
„Meinst du sie bringt mir Süßigkeiten mit?", sprach der Wäscheberg.
„Wollen wir es hoffen", antwortete ich und schob den Stofffetzen beiseite, den wir als Vorhang benutzten damit nicht die halbe Nachbarschaft uns beobachtete, um nach draußen zu sehen. Von weitem erkannte ich ein grau gestrichenes Gebäude, in welchem sich der Laden befand. Er befand sich direkt an der staubigen Straße die auch jetzt vollgestopft mit Menschenmassen und alten Autos war. Dort erhielt man alles was man in einem Elendsviertel gebrauchen konnte: Brot, Wasser aus dem Brunnen das in Flaschen abgefüllt wurde, Second Hand Klamotten, Hygieneartikel und Waffen.

Wir befanden uns in Villa 13, mitten in Argentinien, natürlich konnte man hier Waffen kaufen.

Noch viel wichtiger aber war die Tatsache dass sich hinter dem kleinen Laden ein ziemlich düsterer Hinterhof befand. Eigentlich offensichtlich was man dort kaufen konnte...
Hoffentlich hatte meine Mutter ihren Shoppingtrip nicht dorthin verlegt.

„Wo warst du letzte Nacht?", murmelte Augustín aus seinem Versteck heraus und riss mich aus meinen Gedanken. „Ein bisschen draußen mit meinen Freunden", log ich und ließ vom Fenster ab. Mein Bruder sollte sich kein Vorbild an meinen nächtlichen Eskapaden nehmen. Er sollte es einmal besser haben als wir alle. „Wollen wir nicht etwas spie-." setzte ich an, doch ich wurde unterbrochen als die Eingangstür mit Wucht aufgestoßen wurde und anschließend laut ins Schloss fiel. Eine Tirade an Schimpfwörtern ausstoßend, trat meine Mutter herein, beladen mit kleinen und größeren Plastiktüten.

„Aha sieh dir das an Augustín. Mamá hat uns doch nicht vergessen", witzelte ich ironisch. Dem wütenden Blick meiner Mutter zufolge war sie jedoch nicht zu Scherzen aufgelegt.
„Nun bist du also zurück du Dreckskerl!", keifte sie und ließ die Tüten zu Boden fallen. Mein Grinsen erstarb augenblicklich. Mit drohend erhobenem Zeigefinger ging meine Mutter einige Schritte auf mich zu. Ein blaues Äderchen trat an ihrer Schläfe hervor und ihre Augen waren blutunterlaufen.

„Die ganze Nacht treibst du dich herum, niemand weiß wo du dich aufhälst und du kommst und gehst wann du willst. Das ist rücksichtslos Randi!", brüllte sie und ich sah Tränen in ihren Augen aufblitzen.
Augustín hielt erschrocken die Luft an und blickte mit weit aufgerissenen Augen starr auf meine Mutter und mich.

„Geh in dein Zimmer, ja?", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und schenkte meinem Bruder einen schnellen Seitenblick. Er nickte und verschwand in windeseile aus meinem Blickfeld.
Zitternd stand meine Mutter vor mir und atmete flach. Sie reichte mir kaum bis an die Schultern.

„Mamá, du hättest dich nicht sorgen sollen", begann ich.
„Ich soll mich nicht sorgen?", fragte meine Mutter und ihre angespannten Stimme triefte nur so vor Wut. Ihre Augen verformten sich zu Schlitzen und sie taxierte mich mit eiskaltem Blick. Immer wieder stach ihr spitzer Finger in meine Brust als sie Schritt für Schritt auf mich zukam.
„Dein Benehmen ist unverantwortlich. Keiner kann mir sagen wo du dich nachts herumtreibst, was du machst. Gerade jetzt brauchen wir dich hier", eine Träne rann an ihrem Wundwinkel entlang. Sie schnappte sich ein Foto, das auf einem zugestaubten alten Schrank stand und hielt es mir unter die Nase.

„Dein Vater hätte dir diese Flausen aus dem Kopf treiben müssen, aber er ist nunmal nicht hier. Ich kann es nicht ändern Randi", schrie sie weiter. Die Szene verursachte bei mir Herzrasen. Es fiel mir zunehmend schwer mich zu kontrollieren.

Das Einzige das mir helfen konnte war meine ganz persönliche Mauer. Stück für Stück hatte ich sie aufgebaut und nun wurde es Zeit den letzten Stein zu setzen. Meine Mutter war ein Wrack. Ihre Emotionen konnten mich nicht mehr beeinflussen. Früher hätte ich sie vielleicht getröstet und versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen, doch Zeiten ändern sich. Ich würde nicht zulassen dass sie mein Herz weiter brechen würde.

Also schob ich sie entschlossen von mir mit dem einzigen Ziel, sie zu verletzen damit sie endlich die Klappe hielt. Schluss mit der versöhnlichen Freundlichkeit. „Du denkst also ich bin Schuld dass er fort ist?", entgegnete ich mit gefährlich leiser Stimme.
„Thja wir haben beide Pech. Ich wünschte du hättest die Kugel abbekommen und nicht er!", zischte ich und ließ sie stehen. Nur aus den Augenwinkeln nahm ich wahr wie meine Mutter schluchzend zusammenbrach.
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Hallöchen😻

So langsam kommt Randis wahres Ich zum Vorschein. Sympathisch, oder nicht?😹
Könnt ihr euch vorstellen was mit seinem Vater passiert ist?

Bis demnächst✌🏻

When Worlds CollideWhere stories live. Discover now