Das Bündnis

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Randi
Meine Handflächen schmerzten. Kein Wunder, ich bohrte schon seit Stunden meine Fingernägel in das empfindliche Fleisch. Das verursachte der Stress. Inzwischen war es Freitag Nachmittag. An Unterricht war heute nicht zu denken. Mir ging Lenes Schicksal nicht aus dem Kopf. Wo war sie? Wie ging es ihr gerade? Hatte sie Angst? Schmerzen?
Ich wollte nicht darüber nachdenken, dennoch konnte ich es nicht vermeiden.
Doch nicht nur ich litt Qualen: Ich saß auf dem grauen Sofa in Lenes Zuhause. Ihr Vater lief mit glasigem Blick unruhig hin und her, murmelte unvollständige Sätze vor sich hin. Nachdem ich am vorigen Abend vergeblich nach ihr gesucht hatte, hatte ich Lenes Vater angerufen. Zwar war er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vollkommen nüchtern gewesen, doch die Panik in meiner Stimme genügte um ihm den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Ein Glück stand seine Handynummer im Telefonbuch!

Wir hatten uns sofort zusammengesetzt und ich war gezwungen, ihm von unserem abenteuerlichen Vorhaben zu erzählen. Die ganze Nacht über hatten wir uns Gedanken gemacht wie wir Lene schützen konnten, ohne sie zu gefährden. Letztendlich hatten wir uns wohl oder übel für die Polizei entschieden, entgegen Lenes Bitte. Es gab keinen anderen Weg!
Bald würde ein Ermittler eintreffen, um uns  bezüglich des Falls zu befragen. Sie würden Lene aus den Fängen von Pascal befreien.
Hoffentlich.

„Ich habe nicht einmal bemerkt, dass etwas nicht stimmt.", überlegte Lenes Vater laut und sah hilfesuchend zu mir. „Hat sie mir wirklich so sehr misstraut?"
Gerne hätte ich ihm widersprochen, doch in dieser Situation wollte ich ihn lieber nicht belügen.
„Sie war überzeugt, ihre Probleme selbst lösen zu können. Je weniger Menschen mit einbezogen wurden, desto besser.", erklärte ich diplomatisch. Mein Gegenüber zuckte nur leicht mit den Schultern und sah mich aus wässrigen Augen an.
„Dir hat sie vertraut."

Stimmt, dachte ich. Genau das war ihr Untergang!

Als hätte er meine Gedanken erahnt, setzte sich Lenes Vater neben mich und drückte kurz meine Schulter: „Danke, dass du für meine Tochter da bist! Ich bin nicht der Vater, den sie verdient. Umso besser, dass sie einen so aufopferungsvollen Freund hat."
Zwangsläufig trieben mir seine Worte die Röte ins Gesicht. Trotzdem schüttelte ich abwehrend seine Hand ab.
„Ich habe versagt! Hätte ich besser auf sie aufgepasst, wäre sie jetzt nicht in solchen Schwierigkeiten!"
„Das glaube ich ehrlich gesagt weniger", räumte Lenes Vater ein. „Seit ihre Mutter uns verlassen hat, habe ich meine Pflichten als Vater vernachlässigt. Ich schätze, sie hat versucht die Lücke im Leben, die von einer Familie ausgefüllt sein müsste, anderweitig mit Menschen zu besetzen."

Ich schwieg, dachte aber intensiv über diese Worte nach. Lene hatte weder eine Familie, noch Freunde. Wurde sie demnach regelrecht in die Arme von diesem Pascal getrieben? Traurig dachte ich an meine eigene Familie in Buenos Aires zurück. Mein Vater war tot, meine Mutter ein Wrack. Doch im Leben stützten mich Augustín und Joey und ja, Mya war eigentlich auch ganz in Ordnung. Auch Diego und Anisa waren keine schlechten Menschen. Sie hatten mich mit offenen Armen empfangen. Das war nicht selbstverständlich!
Sie kümmerten sich immernoch um den kleinen Alien. Dass sein Auto abgeschleppt wurde, musste ich Diego noch beichten. Mit Sicherheit würde er darüber nicht sonderlich begeistert sein.

Vielleicht waren wir nicht reich, doch die Menschen in meinem Leben ermöglichten mir eine andere Form von Reichtum, der Lene verwehrt blieb.

Die schrille Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Automatisch sprangen Lenes Vater und ich vom Sofa auf und hechteten zur Haustür. Wie erwartet stand ein Polizist vor der Tür. Er nickte uns kurz höflich zu, stellte sich als Hauptkomissar Werner vor und trat schließlich auf Bitte von Lenes Vater ein. Er stellte eine Menge an Fragen, ließ mich erzählen, stellte zwischendurch wieder ein paar Fragen, ließ Lenes Vater zu Wort kommen und schrieb währenddessen bedächtig unsere Antworten auf einen Notizblock. Dann wollte er Lenes Zimmer sehen, ihren Laptop, ihr Tagebuch.

Meiner Meinung nach stellte er zu viele Fragen. Mir wäre es lieber gewesen, er würde diesen Pascal sofort verhaften. Außerdem war ich nach einer Musterung des Hauptkomissars zum Schluss gekommen, dass er unmöglich in der Lage sein konnte Lene zu befreien. Er war ein bisschen kleiner als ich und eindeutig schmächtiger. Seine Gesichtsfarbe war blass, was ihn kränklich und damit noch ungeeigneter wirken ließ. So einem Hämpfling war es gestattet eine Waffe zu tragen und sich Hauptkomissar zu nennen?

Unruhig beobachtete ich ihn dabei, wie er sich in Lenes Zimmer umsah. Das dauerte alles viel zu lange. Jede verstrichene Minute konnte für sie ernsthafte Konsequenzen bedeuten!
Lenes Vater bemerkte meine Anspannung und zog mich zur Seite: „Wenn du magst, kannst du draußen eine Zigarette rauchen gehen. Sollte Herr Werner noch Fragen an dich haben, rufe ich dich. Solange passe ich hier auf, alles klar?"
Ich nickte und lächelte ihn dankbar an.

Sobald ich draußen die kühle Luft einatmete, entspannte sich mein Magen etwas. Das Wetter war unbeschreiblich schön. Auf dem azurblauen Himmel zeichnete sich keine einzige Wolke ab. Die Sonne schien hell und wärmte sanft mein Gesicht, welches ich ihr zugewandt hielt. Es wehte ein leichter Wind, der die Bäume des nahe gelegenen Waldes zum Rauschen brachte. Die Welt wirkte so friedlich, während mein Universum mit Lenes Verschwinden zusammengebrochen war.

Ich kramte nach einer Zigarette und einem Feuerzeug in meiner Jackentasche und sog gierig das Nikotin ein. Meine Lungen prickelten und ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Für einen kurzen Moment fiel jeglicher Stress von mir ab und ich schloss genießerisch die Augen. Gerade überlegte ich einen Waldspaziergang einzulegen, als ich Schritte hinter mir vernahm. Lenes Vater trat neben mich und atmete wie ich zunächst die Herbstluft ein.
„Gibst du mir eine?", fragte er und deutete auf die Zigarette in meiner Hand.
Schweigend standen wir einfach nur da und bließen graue Wolken in die Luft.

„Eine ganze Einheit ist auf Lenes Fall angesetzt.", begann er zu sprechen. „Sie werden zum Haus der Kerrs fahren um deinem Verdacht gründlich nachzugehen. Bestimmt ist sie dann schnell wieder zu Hause.", überlegte er.
Ich wünschte es würde so einfach werden.
Stumm hingen wir unseren Gedanken nach, bis auch der Komissar sich zu uns gesellte.

„Ich werde den Laptop mit aufs Revier nehmen. Wir sind sicher Ihnen ihre Tochter in kurzer Zeit wiederbringen zu können.", versicherte er. Herr Werner empfahl sich und lief beschwingt zu seinem Wagen. Wir sahen ihm nur gedankenverloren hinterher.

In kurzer Zeit. Was sollte das schon bedeuten? Nach allem was Lene mit dieser Familie durchmachen musste, war es notwendig sie sofort aus der Hölle zu befreien!

„Das hat sie nicht verdient!", flüsterte ich bitter und trat die inzwischen dritte Zigarette aus.
„Aber dich hat sie verdient!", entgegnete mir Lenes Vater und sah mich eindringlich von der Seite an. „Jetzt braucht sie dich mehr als zuvor und du bist für sie da. Es beruhigt mich, dich an ihrer Seite zu wissen."
„Danke", antwortete ich. „Jetzt haben auch Sie die Chance, Lene zu unterstützen. Ich bin sicher sie wird Ihnen alles vergeben, was in der Vergangenheit passiert ist."
Er nickte langsam. „Ich bin übrigens Martin.", stellte er sich vor und gab mir die Hand.

Unser beider Ziel war es, Lene zu schützen. Nach all den Jahren war sie nun nicht mehr alleine.

When Worlds CollideDonde viven las historias. Descúbrelo ahora