Kapitel 32

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Gulli kaufte am Automaten zwei Tickets die Möglichst weit nach Osten gingen. Zuhause habe ich noch sämtliches Geld zusammen gesucht. Es würde uns auf jeden Fall einige Wochen über die Runden bringen. Er kam mit zwei Karten auf mich zu. "Es gibt tatsächlich einen Zug der direkt nach Litauen fährt. Dort müssen wir halt schauen wie wir weiter kommen." So begann unsere Reise über 1.621 km.

"Wann kommt der Zug ?" "In zwei Stunden. Sollen wir uns vielleicht was zu trinken kaufen ?" "Ja" Gulli hatte meine Hand immer noch nicht los gelassen. Wir gingen in den kleinen Supermarkt, der in der Bahnhofshalle war. Dort holten wir zwei Dosen Cola und zwei Flaschen Wasser. Von Zuhause haben wir zwar wirklich viel mitgenommen, aber etwas mehr Wasser konnte nie schaden. "Wir können uns hier auf die Bank setzten oder auf dem Gleis auf einer Bank warten." "Ich würde gerne schon auf das Gleis." In der Bahnhofshalle waren mir zu viele Menschen die mich sehen konnte. Zu viele Menschen die Fragen stellen konnten. Zu viele Zeugen. Dabei waren wir nicht einmal wirklich auffällig. Nur zwei Teenager auf einer Reise. Die, die in Hamburg zu tausenden vor kamen.

Am Bahnsteig war keine Bank mehr frei weswegen wir uns auf den Boden setzten. Ich stellte meinen Rucksack an einer Laterne ab und lehnte mich dann dagegen. Es war gemütlich und das kam mir in diesem Moment irgendwie sehr befremdlich vor. Dennoch fand ich es lächerlich jetzt aufzustehen um mich anders hin zu setzten. Gulli machte es sich neben mir bequem und gab mir eine Dose von der Cola. Mit einem zischen öffnete ich sie. "Meinst du das wir meine Eltern in Estland wirklich finden können ?" "Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, aber ich hoffe es so sehr." Durch meinen Kopf gingen die absurdesten Dinge. Zum Beispiel das die Polizei mich nicht aufgreifen dürfte, da Gulli schon über 18 war. Somit war er eindeutig meine Aufsichtsperson. Allerdings würde in solchen Lage wie eine gerade herrscht niemand schauen ob die kleine Summer Winter schon 18 ist und wenn nicht, wie sie nach Hause kommen soll. Da wird eher drauf geachtet ob ich vielleicht eine Bombe oder ähnliches mit nehme.

Auf der Wand uns gegenüber war ein riesiges Graffiti. Da stand "Niemand ist frei solange nicht alle frei sind." Drum herum waren lauter Blumen. Ich hatte noch nie ein Graffiti mit diesem Stil gesehen. Es war eher eine wunderschöne Malerei. Es war über andere drüber gesprüht und stach einem direkt ins Auge. Ich konnte die Unterschrift nicht entziffern, weil es zu weit weg war. "Du hast Liam gesagt er soll die Nachrichten aus Estland verfolgen, aber warum? Was hast du vor ?" "Ich kann nicht einfach bei ihm anrufen oder so, aber dennoch habe ich andere Ideen wie ich ihm Nachrichten zukommen lassen kann." In mir stieg irgendwas unbeschreibliches hoch und wollte aus mir ausbrechen. Ich schwieg und wartete ab was passieren würde. "Wir werden deine Eltern finden und irgendwann wieder hier her kommen, dann bist du wieder bei all deinen Freunden." Es hatte es geschafft. Es hatte sich den Weg aus mir raus gebahnt. Zuerst fing ich an ein klein wenig zu weinen, doch ich konnte nicht mehr aufhören und alles in mir zog sich zusammen. Mein Körper schüttelte sich, als ob mein Kopf und der Rest nicht zusammen arbeiten konnten, sondern gerade nur gegen einander kämpfen wollten.

Gulli schlang seine Arme um mich und zog mich auf seinen Schoß. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulter. "Es ist schrecklich alles zurück zu lassen, aber du bist nicht alleine." Er verstärkte seine Umarmung und ich fühlte mich um einiges besser. Trotzdem wollte ich nicht das er mich los ließ. "Du bist nicht alleine, ich bin bei dir. Für immer." Zum Glück war Gulli immer für mich da. Gerade überkam mich das Gefühl etwas richtig gemacht zu haben, und zwar anstatt Gulli Lima und alle anderen zurück zu lassen. Irgendwie konnte ich damit besser leben wie wenn ich Gulli in Hamburg gelassen hätte und einfach abgehauen wäre.

Wir teilten viel mehr wie ich mit irgendwem sonst geteilt habe. Wir beide hatten nicht wirklich Eltern. Zwar haben sich meine größte Mühe aber wirklich für mich da waren sie nie. Wir beide kämpften auf der Straße für unsere Rechte. Wir beide würden für den anderen alles tun, selbst wenn das bedeuten würde sein eigenes Leben zu riskieren. Und genau das war gerade der Fall. Gulli wurde von der Polizei gesucht, sein Bruder war im Knast oder irgendwo auf dem Weg nach Schweden, wenn er erwischt werden würde würde Gulli sofort festgenommen werden. Mit sehr viel Pech würde er nach Amerika ausgewießen werden, da sein Idiot von Vater von da kommt. Dort wäre er ein Staatsfeint und man würde nicht sehr freundlich mit ihm umgehen.

Das alles riskierte er um mich zu begleiten und zu beschützen. Aber warum tat er das eigentlich? Er hatte keine Verpflichtungen oder Schulden mir gegenüber. Die hatte er schon lange beglichen. Also weshalb war er jetzt hier?

"Warum tust du das Gulli ?" Nuschelte ich an seinen Hals. "Was meinst du ?" "Alles zurück lassen, obwohl du deinen eigenen Weg gehen könntest, nur um auf mich aufzupassen." "Mit jemanden der so unschuldig wie du aussiehst wird man viel weniger kontrolliert und kommt besser durch." "Das stimmt nicht." "Natürlich stimmt das." "Deswegen bist du nicht mit mir gekommen. Du hast deinen Bruder einfach zurück gelassen. Er ist das einzige was du noch hast. Also, warum hast du das getan ?" Er schaut auf mich herunter und etwas in seinem Blick veränderte sich. "Ich würde dich nie alleine lassen. Auch wenn wir keinen Kontakt hatten hatte ich immer einen Blick auf dich. In der ganzen Zeit hatte ich dich keinen Tag vergessen oder auch nur dran gedacht. Ich habe außer Buffi noch jemanden und zwar dich. Buffi kann sich alleine durch schlagen, das konnte er schon immer, aber ich wusste das du das nicht alleine durch stehen würdest. Genauso wenig wie ich." "Aber..." "Es gibt kein aber." Unterbrach er mich.

Wir blieben sitzen und schwiegen bis eine Durchsage unseren Zug ankündigte.

Verliebt in den FalschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt