kalte Spuren

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Kapitel 62

Ethan konnte nicht sagen, was mit ihm in dem Moment geschah, als das Messer die Haut an Selenes Hals spaltete und es rot an ihrem blassen Hals herablaufen ließ. Sein Kopf stellte auf eine merkwürdige Art und Weise fest, dass der Farbkontrast wunderschön war, geradezu poetisch aber gleichzeitig zersprang etwas in ihm und ließ seinen Körper nichts als Schmerz fühlen. Es erschien ihm alles wie in einer tonlosen Zeitlupe.
Selene konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sank in sich zusammen und zog ihren Bruder mit nach unten, der sie nicht halten konnte. Das war die Sekunde, in der er abdrückte. Die Kugel traf ihn genau da, wo seine Schlüsselbeine sich auf seiner Brust trafen. Er verfehlte seinen Kopf, weil er noch in derselben Sekunde nach forne schnellte und Selene mit einem Arm umklammerte. Dereks Kugeln waren da zielsicherer, trafen den Mann nach Vorschrift erst in der Schulter und dann noch einmal im Knie, nachdem Ethan Selenes Körper an seiner Brust spürte und sie an sich zog.
Aber obwohl Ethan Gus nicht so getroffen hatte, wie er es vorgehabt hatte – eine saubere Hinrichtung mit einem Kopfschuss, hatte er die Luftröhre des jungen Mannes erwischt. Er fiel blutend und schwer nach Atem ringend zu Boden, versuchte das unvermeidliche zu verhindern. Es war Ethan egal. Auch als Karina die Treppe herab stolpere und zu ihrem Sohn rannte, seinen Kopf auf ihren Schoß bettete und schreiend und weinend auf ihn nieder blickte während Gus starb. Er hörte ihren Schrei nicht, sah sie nur aus den Augenwinkeln. Es war ihm egal. Ethan hatte andere Prioritäten. Er legte Selene auf den Boden ab und drückte seine Hand auf die Wunde an ihrem Hals. Gus hatte die Schlagader verfehlt, der Schnitt war nicht tief genug. Dennoch blutete es wie Hölle und sie musste schnell in ein Krankenhaus gebracht werden. Noch bevor Ethan dazu den Befehl geben konnte, sah er, wie Derek zu ihm kam, seinerseits Druck auf Selenes zweite Wunde ausübte und etwas in sein Handy brüllte.
Für Ethan zählte es nur Selene am Leben zu erhalten. Gus war ihm egal, der Fall war ihm egal, sein eigenes Leben war ihm egal. Alles was zählte, lag blutend und wimmernd vor ihm und ließ seinen Blick nicht los. Selenes Körper zitterte. Schock breitete sich in ihr aus und er konnte nichts weiter tun, als ihrem Blick standzuhalten und die Blutung mit aller Kraft zu stillen.
Es schienen Stunden zu vergehen, er spürte den Schmerz in seinen Händen und seinen Schultern, weil er es sich nicht wagte sich zu bewegen – aus Angst er könnte sie verlieren. Also verharrte er so lange in dieser Stellung bis Fremde versuchten ihn beiseite zu schieben. Aber er hörte nichts, nahm nichts wahr, gar nichts. Er stand selbst unter Schock, wie seine Rationalität feststellte. Aber das Schieben und Schütteln hörte einfach nicht aus.
„Ethan! Ethan! Ethan! Verdammt! Lass die Ärzte sie behandeln!", brüllte ihm Derek plötzlich ins Ohr und die Zeitlupe brach und tausende Geräusche strömten auf ihn ein. Das Wimmern einer Frau, das Klappern von Metall und das Trampeln von Stiefeln.
„Gehen Sie bitte zur Seite, Sir!", forderte ein Mann in roter Jacke und schob ihn von Selene weg, ihren grünen Augen über die sich ein langsam ein Schleier legte. Sie hatte Schmerzen und Ethan spürten sie ebenfalls.
Ein Sanitäter drückte Selene einen Druckverband gegen den Hals und ein anderer drückte ihr eine Art Schaum in den Bauchraum, was er selbst kannte, weil ihm das bereits zweimal in die Schulter und einmal in das Bein verabreicht wurde. Ethan wagte es sich gar nicht zu fragen, aber als sie auf eine Liege gelegt wurde und Gus in einen Leichensack abtransportiert wurde, fand er seine Routine wieder.
„Ich fahre mit ihr!", bestimmte Ethan und folgte dem Arzt, der ihm einen fragenden Satz über die Schulter zuwarft.
„Nur Verwandte, Sir!", meinte er und Ethan deutete mit dem Daum auf den Leichensack.
„Versuch Sie mich aufzuhalten!", knurrte er und der Arzt wagte es die Augen zu verdrehen, ließ ihn aber mitfahren.
Er hielt Selenes Hand bis sie da waren und hörte den Sanitätern dabei zu, wie sie das Krankenhaus informierten und einen OP-Saal bestellten. Es folgten eine Menge von Fachbegriffen, die er sich nicht wagte zu hinterfragen, aber der andere Arzt gab ihm mit einem Lächeln zu verstehen, dass die Chancen gut standen. Ein Stein in der Größe eines Wohnblockes viel ihm vom Herzen und er gab ihre Hand frei, während ihr eine Kanüle gelegt wurde, durch die sie Schmerzmittel bekam, dennoch hielt sie ihm mit dem Blick fest.
Am liebsten hätte er sie im Arm gehalten und ihr versprochen, dass alles gut werden würde, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Also saß er dabei, während sie erstversorgt wurde, bis sie im Krankenhaus ankamen und direkt in den Vorbereitungsraum geschoben wurde. Es fiel ihm schwer sie gehen zu lassen aber letztendlich hatte er keine Wahl und blieb im Warteraum sitzen und konnte nur hoffen, dass es keine Komplikationen geben würde.
Er hatte keine Ahnung wann genau Derek sich neben ihn setzte, aber er tat es und natürlich schwieg er nicht.
„Wir haben vielleicht ein ernsthaftes Problem", murmelte er und eigentlich wollte Ethan nicht sprechen, aber sein Verstand zwang ihn dazu, während sein Herz bei Selene blieb.
„Es geht um Gus", murmelte er, denn das war die einzige logische Konsequenz. Durch Gus Tod war eine ziemlich wichtige Quelle versiegt und eine wichtige Spur kalt geworden.
„Irgendwie ja. Abgesehen von seiner DNA finden sich keine weiteren Fremdspuren auf den Leichen. Natürlich ist die Forensik noch nicht ganz durch und ein weiteres Team durchsucht immer noch große Stücke des Waldes, aber es sieht nicht danach aus, als wäre der ältere Täter in den letzten Monaten überhaupt mal in NewHollow gewesen." Mist.
„Also hat er Karl Hollow getötet, den Sherriff und seine Familie und zwischen diesen und demletzten Mordopfer?", fragte Ethan und wollte einmal mehr die Antwort darauf nicht hören.
„Vor Karl und der Sherrif-Familie lag die jüngste Leiche bereits dreizehn Monate unter der Erde", sagte er und Ethan fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Wir können es bei dem Umfang nicht mehr lange Geheimhalten und sobald der Mörder erfährt, dass wir seinen kleinen Horrorwald umgedreht haben, haben wir ihn vertrieben." Oder kurz: Es war vorbei. Wenn jetzt nicht irgendwelche Augenzeugen auftauchen, neue Spuren oder ein verfluchtes Wunder würde die wirkliche Bedrohung weiter auf freien Fuß bleiben. Verdammte Scheiße!
„Vielleicht hat Selene noch was für uns", versuchte er es auf die Positive Art. Ethan aber wusste es besser, alles was jetzt noch kam waren Hinweise, die ihnen mit sehr viel Glück zu jemanden bringen würden, der sich mit noch viel mehr Glück einen Indizienprozess entgegensehen konnte. Der Albtraum eines jeden Bundesgerichtes. Nein, der Fall hatte seine heiße Spur eingebüßt, was natürlich nicht bedeutete dass er wieder heiß werden könne, aber zumindest jetzt befanden sie sich definitiv in einem Tal.
„Was ist mit den Gus Hintergrund?", versuchte Ethan es, er wollte jetzt nicht an Selene denken. Sonst würde er zerbrechen.
„Er teilte sich in der Kinderpsychatrie ein Zimmer mit, halt dich fest, Benjamin Rose und dank der Einverständniserklärung zur Akteneinsicht von Karina Lagarotti wissen wir, das der kleine Mistkerl schon sehr früh ziemliche Probleme hatte. Er hat in der Schule einem anderen Kind ein Bleistift ins Auge gerammt und ein Mädchen davon überzeugt, dass sie es gewesen ist. Leider ziemlich schlampig, die Lehrer wussten sofort, dass sie gelogen hat. Dann hat er versucht die Lehrerin mit einer Schere zu attackieren. Ungefähr in diesen Stadium schient er stecken geblieben zu sein. Seine Ärzte bezeichnen sie in ihren Protokollen als manipulativ allerdings nicht sehr feinfühlig und als trotzig und unfähig, eigene Fehler einzusehen. Er hat schon sein ganzes Leben andere für seine Taten verantwortlich gemacht."
„Benjamin war Autist, er konnte Gus nicht durchschauen. Für ihn waren seine Fähigkeiten also gut genug", das ist einfach nur furchtbar. Gus war zwar nicht der den sie gesucht hatten, aber definitiv schlimm genug.

„Er hatte Kontakt zum Mördern, vielleicht finden wir irgendetwas was uns weiter hilft, wenn wir wissen, wo zum Teufel der kleine Mistkerl all die Tage über war."

„Das wissen wir schon. In seiner Tasche fanden wir ein Prepaid-Telefon und eine Hotelschlüsselkarte. Sie haben darüber sporadisch Kommuniziert, in erster Linie Gus mit ihm. Gus schien ziemlich sauer, weil er sich nicht mehr gemeldet hat und droht ihm allerlei Dinge an, wie zur Polizei zu gehen oder seine Leichen an einem Baum aufzuhängen."
„Zumindest ist er konsequent bei seinen Drohungen", murmelte Ethan und rieb sich die Stirn. Doch damit erlosch das Gespräch und Ethan konnte sich nicht mehr konzentrieren und Derek ließ es dabei. Vorerst.

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now