Mit offenen Karten

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Kapitel 7
Ethan hasste es, wenn Frauen weinten und obwohl ihre großen grünen Augen vor Wut auf ihm brannten, machte sie den Eindruck jeden Moment in Tränen auszubrechen. Das hier war also Alice. Keine professionelle Spionin, ganz im Gegenteil. Sie wirkte wie das typische Mädchen von nebenan, nicht so als würde sie zu der Sorte Mädchen gehören, die sich so sehr in Schwierigkeiten brachten, dass sie dazu einen Agenten des FBI aufsuchen mussten.
Ihre Ansprache hatte ihn getroffen, das musste er zugeben und obwohl er diese Göre einfach nur wieder aus seinem Leben verbannen wollte, war ihm klar, dass sie wirklich Hilfe brauchte. Sie schien zu stolz und zu stur um hierher zu kommen, wenn sie eine andere Wahl gehabt hätte.
Also stöhnte er ergeben auf, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank um sich ein Bier herauszuholen. Das brauchte er jetzt wirklich.
„Willst du was trinken?", fragte er und wusste selbst, dass er immer noch absolut unfreundlich klang. Aber das tat er immer. Er hatte nie das Feingefühl besessen, um auf Menschen anders zu wirken.
„Ein Tee wäre schön", sagte sie, seidenweich und ohne ihn anzublicken. Ethan schnalzte mit der Zunge. Er hatte keinen, überlegte aber was er ihr überhaupt anbieten konnte. Die Auswahl war ziemlich begrenzt.
„Hab ich nicht. Vielleicht irgendetwas anderes? Ein Bier?" Er begegnete ihrem Blick und fluchte dann wieder, als sie mit gerunzelter Stirn zu ihm sah, als wäre die Vorstellung, dass sie ein Bier von ihm annahm so abwegig oder ....Mist.
„Scheiße, du bist zu jung für ein Bier, stimmt's?" Fuck. War sie tatsächlich noch keine einundzwanzig? Hätte er sich fast strafbar gemacht mit dem Vorhaben, sie in sein Bett zu zerren?
„Ich bin zweiundzwanzig, also nein. Ich bin nicht zu jung für ein Bier, verzichte aber lieber auf Alkohol. Ich nehme auch einfach nur Leitungswasser, wenn es recht ist", erwiderte sie empört. Der glasige Ausdruck in ihren Augen war verschwunden und Ethan konnte den Göttern nicht genug Danksagung erweisen. Sie war nicht minderjährig und gerade einmal zehn Jahre jünger als er selbst. Das war fast entschuldbar.
Er nickte nur, nahm sich eines der sauberen Gläser aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn, bevor er es auf den Tisch stellte – eine der wenigen Sitzgelegenheiten in der Wohnung. Er hatte so gut wie nie Besuch, also sparte er sich alles an Möbeln, was er nicht selbst direkt brauchte.
Alice ging zögerlich an ihm vorbei, während er am Tresen lehnte und einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche nahm. Sie wirkte unsicher als sie sich auf einen Küchenstuhl setzte und an ihrem Wasserglas nippte. Ganz vorsichtig, als könnte es vergiftet sein, oder als wäre sie einfach nur verunsichert. Er wusste es nicht.
„Am besten wir überspringen die nervigen Fragen, woher du die ganzen Informationen bekommst, die du uns regelmäßig steckst und kommen zu der Stelle, an der du unsere Hilfe brauchst."
Sie stellte ihr Glas ab, hob ihre Handtasche auf den Tisch und kramte darin herum. Instinktiv zuckten Ethans Muskeln und jede Faser seines Körpers wurde sich darüber bewusst, dass er nicht bewaffnet war. Aber in der Schublade neben ihm waren Messer. Sie war klein und zierlich, er könnte sie innerhalb von Sekunden überwältigen. Doch natürlich war es keine Waffe die Alice aus der Tasche zog. Wenn sie ihn hätte erschießen wollen, hätte sie es wahrscheinlich längst versucht.
Es war ein Einmachglas, in dem eine gelbliche Flüssigkeit schwamm und das mit einem silbernen Deckel verschlossen war. Darin schwamm ein paar menschliche Augen mitsamt Nervenstrang und zerfetzter Gehirnendstelle.
Er versuchte keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, verkniff sich ein Kommentar und wartete ab, bis sie selbst eine Erklärung lieferte.
„Das hier habe ich gestern Morgen auf meiner Veranda gefunden, zusammen mit einer Karte und der zerfetzten Leiche eines Zwölfjährigen, der in NewHollow, Virginia, seit zwei Wochen vermisst wird."
Ethan kam näher und griff nach der Karte, die sie neben das Glas gelegt hatte. Sie hielt ihn nicht auf, als er mit einem Küchenhandtuch danach griff und sie eingehend betrachtete.
>>Folge mir ins Wunderland. Had Matter.<< stand in ausgeschnittenen Lettern auf der Rückseite, auf der anderen war mit einem Füller ein A geschrieben worden. Ein kalligrafisches A. Zu perfekt um für eine Handschriftanalyse etwas zu taugen.
„Da weiß jemand wer du bist und wahrscheinlich auch was du tust", folgerte er und sah die junge Frau eindringlich an. Sie schluckte, wich dem Anblick des Einmachglases aus. Sie hatte brutalere Bilder von ihm erhalten und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie der Typ Frau war, die sich vor so etwas ekelte. Was war an dieser Sache anders?
„Er weiß sehr viel mehr. Er war bei mir Zuhause, er kennt meine wahre Identität und er weiß, was mir passiert ist. Die Augen in dem Glas gehören nicht Karl, also dem vermissten Jungen, sondern meiner Großmutter. Sie wurde vor einigen Jahren von einem jungen Mann getötet, der behauptet hatte ihre Augen gegessen zu haben nachdem er sie erstach. Er sitzt noch heute in einer Klinik für labile Strafgefangene."
Ethan sah zu ihr herab, begegnete ihrem Blick und wiederholte die Frage, die er ihr vorhin bereits einmal gestellt hatte und diesmal erwartete er tatsächlich eine Antwort.
„Wer bist du?" Sie erwiderte seinen Blick und sie wussten beide, dass sie nun mit offenen Karten würde spielen müssen, damit er ihr half.
„Selene James. Ich wurde in NewHollow, Virginia, geboren. Meine Mutter ist Dorma James, mein Vater ist in Afghanistan gefallen, ich wuchs bei meiner Großmutter auf", sagte sie ohne zu zögern. Das waren alles Informationen, die er auch nur mit ihrem Namen herausbekommen hätte, doch sie schien sich zum Glück dazu entschieden zu haben keine Spielchen zu spielen und Ethan war dankbar dafür.
Selene...
Der Name war schön, die Aussprache klang europäisch. Sie betonte den letzten Buchstaben, während jeder Amerikaner ihn vollkommen verschluckt und den Hauptton auf den Vorletzten gelegt hätte. So ungewöhnlich wie der Rest dieser Frau.
„Warum hast du dich nicht an die ansässige Polizei gewandt?", fragte er weiter ohne darauf einzugehen, dass der Kerl in der Irrenanstalt sehr wahrscheinlich nicht der Mörder ihrer Großmutter war, das wusste sie selbst.
„Weil die örtliche Polizei bis auf eine Ausnahme glauben will, dass ich schuld bin. Bereits als der Junge verschwand, machten die ersten bösen Verleumdungen die Runde. So wie immer, wenn etwas in der Stadt passierte. Meine Familie ist so etwas wie der Sündenbock für alles und glauben Sie mir: Gerechtigkeit ist dort draußen auf dem Land das Letzte wonach die Einwohner streben."
Ethan nickte im vollen Bewusstsein darüber, dass in den ländlichen Gebieten der USA leider immer noch viel zu viel schieflief. Er hörte immer wieder von Menschen, die gemeuchelt wurden und Gemeinden, die so fest zusammen hielten, dass niemand dafür zur Verantwortung gezogen werden konnte.
Und wenn auch nur die Hälfte ihrer Beschreibungen wahr war, brauchte Selene James tatsächlich Hilfe.

Beta: Zitronenlimonade

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now